erste Version: 10/2018
letzte Bearbeitung: 11/2018

Chronik des Aufstiegs: Weimarer Republik und Drittes Reich - Die Pforten der Hölle - Aufstieg aus der Hölle

F1158.

Die wenigen Blätter der Akte die sich auf die Zeit, bevor ich zu den Schwarzen Rittern kam, bezogen, waren da verwirrend

Vorgeschichte: F1157. Khiris: Sie wollte mir auch zuerst nicht glauben, daß ich ihr Sohn war und sagte sie hätte nur einen Sohn und der wäre ins Heim gekommen, weil er krank war

Khiris erzählt:
Wieder zuhause beschäftigte ich mich mit meiner Akte. Ich hatte immer gewußt, daß es diese Akte gab, aber mich bisher nicht dafür interessiert.

Zunächst einmal wollte ich wissen, wie ich als kleines Kind wirklich gewesen war. Ich hatte in den letzten Jahren wenig an diese Zeit gedacht, konnte mich aber nur an das Märchen mit Schneewittchen und den ständigen Hunger erinnern. Aus meiner heutigen Sicht berührt mich seltsam, was ich damals so alles gegessen habe. Ich habe jetzt das ein oder andere, wenn keiner zusah, wieder probiert und stellte fest, daß es tatsächlich so schmeckte, wie ich mich erinnerte.

Jetzt wollte ich wissen, wie mich andere Menschen gesehen hatten, denn meine Erinnerungen waren da nicht erhellend. Es gab da einen Vater, vor dem ich mich gefürchtet habe, weil er mich immer geschlagen hat. Eine wirkliche Beziehung hatte ich zu ihm nicht gehabt. So weit ich mich erinnern konnte, da war nur Angst. Meine Mutter hatte mich auch manchmal geschlagen und ständig über mich geschimpft. Sie hatte mir aber einiges über Kräuter beigebracht und mir täglich etwas zu essen gegeben. Die einzigen freundlichen Worte, die mir einfallen wollten, waren eben diese Märchen. Alle anderen Erinnerungen an Menschen waren noch negativer - andere Kinder hatten mir Vogeleier weggegessen, die ich hatte essen wollen, mich verprügelt oder ich hatte sie verprügelt. Erinnerungen an Erwachsene hatten immer auch etwas mit Prügeln zu tun.

Die wenigen Blätter der Akte die sich auf die Zeit, bevor ich zu den Schwarzen Rittern kam, bezogen, waren da verwirrend. Während ich mich daran erinnern konnte, daß ich zwar ein etwas naives Weltbild gehabt hatte, aber jedes Wort verstanden und gelegentlich auch mal was gesagt habe, stand dort, ich wäre schwachsinnig und könne nicht sprechen, sondern nur knurren und beißen wie ein Hund. Außerdem würde ich ganz bedrohliche tierische Geräusche von mir geben, die beweisen würden, daß ich nicht viel mehr als ein Tier wäre. Ich fragte mich, wie ein Vierjähriger Erwachsenen bedrohlich erscheinen konnte, egal wie er sich benimmt. Ich wäre außerdem ein Dieb. Es konnte durchaus sein, daß ich gelegentlich mal Eier, die nicht zu Amseln sondern zu fremden Hühnern gehörten, gegessen hatte, überlegte ich mir oder einen Apfel aus einem fremden Garten - aber deshalb wurde ein Kind normalerweise nicht zum Dieb erklärt, weil viele Kinder das manchmal taten, bis sie gelernt hatten, was sie durften und was nicht. Kinder bekamen dann eine Tracht Prügel vom Nachbarn und das wars. Was sollte dieser Eintrag also?

Karon sagte mir dazu, daß er sich das auch nicht erklären könne. Als ich zu ihnen gekommen war und sie mit mir Bilderbücher angeschaut hatten, um zu prüfen, was ich weiß, hatte ich auch sehr viele Alltagsgegenstände benennen können, die es im Kinderheim nicht gegeben hatte. Ich hatte sehr viele wilde Pflanzen und Tiere richtig bezeichnet, was ich auch nur in meinem ersten Zuhause gelernt haben konnte, weil wir im Heim ziemlich eingesperrt gewesen wären.

Als Vierjähriger war ich in ein Heim gebracht worden, das letztlich eine Art Irrenanstalt gewesen war. Das Blatt meiner Akte, das aus diesem Heim stammte und der Brief über mich, der dazu geführt hatte, daß die Schwarzen Ritter dorthin geschickt wurden, beschrieben mich genauso als bissiges Tier, wie dieses erste Blatt. Richtig gruselig war die Behauptung ich hätte mich in einen Wolf verwandelt und einige wesentlich ältere Kinder totgebissen und aufgefressen.

Dieses Rätsel wurde durch den ersten Bericht von Karon aufgelöst. Dort stand nämlich, daß er davon ausging, daß die älteren Kinder wahrscheinlich verhungert waren und ich das Fleisch der toten Kinder gegessen hatte. Das konnte ich mir vorstellen, denn wenn ein Lebewesen tot ist, sehe ich nur noch die Seele als lebendig, nicht den Körper. Karon ließ sich länger über die halb verhungerten Heimkinder aus und daß man da dringend etwas unternehmen müßte. Er schrieb, ich hätte, obwohl ich, als ich geholt wurde, bereits fünf war - nur die Größe eine Zweijährigen gehabt und sei deshalb auch nicht in der Lage gewesen, zehnjährigen Kindern gefährlich zu werden. Ich hätte ängstlich gewirkt und ihn gebissen, aber auf der Fahrt auch in unvollständigen Sätzen mit ihm geredet. Er hatte sich gewundert, warum ich einerseits ein so langes Wort wie Schneewittchen richtig ausgesprochen hatte, andererseits aber keine ganzen Sätze benutzt hatte.

Karon war damals erst vierzehn gewesen und hatte einen älteren Kollegen ins Heim begleitet, um mich zu holen. Turum, der ältere Kollege, war einer der Menschen, die mit mir immer einer Meinung waren, wenn ich nicht verstand, warum andere Menschen so komisch reagierten, also hatte er wohl dieselben sozialen Probleme wie ich. Tatsächlich hatte daher Karon den höheren Rang gehabt und den Bericht geschrieben, auch wenn der Heimleitung der Eindruck vermittelt worden war, Turum wäre der Verantwortliche. Der Trick, mit dem man das macht, ist sehr einfach, hatte mir Turum erklärt. Der ältere Kollege, der sich, wenn er reden würde, nur durch ungeschickte Bemerkungen in Probleme bringen würde, lehnt sich mit einem wohlwollenden Lächeln zurück und läßt den Jüngeren reden. Dann denken andere Menschen, er wäre der Lehrer und würde den Jüngeren machen lassen, damit er seinen Beruf lernt.

Der Bericht danach stammte von einer Konferenz, die etwa eine Woche später stattgefunden hatte. Dort wurde meine Sprachentwicklung als etwa altersgemäß klassifiziert, mir aber einige soziale Defizite bescheinigt und Maßnahmen festgelegt, mit der man diese Probleme beheben wollte.

Eine dieser Maßnahmen war, daß Karon mit mir kämpfen übte. Das wundert vielleicht bei einem Jungen, der sowieso viel zu gewalttätig war. Tatsächlich ging es aber gar nicht anders, weil ich sowieso jeden angegriffen hatte, der mir zu nahe kam und zu nahe war, wenn jemand weniger als zwei Meter Abstand zu mir hielt. Er brachte mir nicht eigentlich das kämpfen bei, sondern daß man bei Übungskämpfen Sicherheitsregeln beachten muß, damit man niemanden verletzt. Ich brauchte mehrere Jahre, bis ich das so ganz begriffen hatte. Ich hatte diese Kampfübungen auch nicht als Kampfübungen eingeordnet, sondern geglaubt, Karon wolle mit mir kuscheln oder so ähnlich, schließlich hat er mir nie wehgetan. Ich fand ihn jedenfalls sehr nett, weil er das täglich mit mir machte.

Danach kamen diverse Prüfungsergebnisse, Zeugnisse und kurze Zusammenfassungen, in denen regelmäßig stand, daß sie mit meiner Persönlichkeitsentwicklung zufrieden waren und meine Fortschritte schilderten. Ich hinkte in diversen Bereichen hinter der altersgemäßen Entwicklung her, wie sie das sahen, aber ich war jetzt schon in Bereichen angekommen, die nicht jeder normale Mensch überhaupt erreicht. Sie hatten so ein System, nach dem sie das beurteilten, bei dem es darum ging, wann ein Kind, das etwas seelisch schon gelernt hatte, das in einem Leben erreicht, wo es das nicht völlig neu lernen muß und wo die Bedingungen zum lernen gut sind1.. Wenn dem keine verdrängten Traumata entgegenstehen lernt ein solches Kind das alles sehr früh. Wenn ein Kind diese Dinge in vorhergehenden Leben noch nie wirklich selber gelernt hat, braucht es wesentlich länger um eine neue Entwicklungsstufe zu erreichen, oft mehr als ein ganzes Leben. Mein langsames Lerntempo, wo ich jede Stufe nicht in drei sondern in zehn Jahren erreichte, deuteten sie so, daß ich das vor langer Zeit schon einmal gelernt gehabt hatte, daß ich aber diverse Höllen-Traumata aufarbeiten mußte, um in diesem Leben darauf zugreifen zu können.

Als den letzten wichtigen Entwicklungsschritt, den sie bemerkt hatten, nannten sie meine Erkenntnis, daß andere mich seltsam finden und die war der Grund gewesen, warum Karon mich mit zu meiner Mutter hatte nehmen sollen.

Ich ging wieder zu Karon und fragte ihn, wie es denn kam, daß die Leute mich komisch fanden, wenn man mir gleichzeitig bescheinigte, daß ich mit meiner Persönlichkeitsentwicklung weiter gekommen war, als manche Leute, die normal erscheinen. Er erklärte mir, wenn ein Mensch eine seelische Verletzung hat, die verhindert, daß er eine Fähigkeit auf dem normalen Wege erlernt, daß er dann - wenn sie ihm angeboten werden - analoge Fähigkeiten erlernen und damit die Grundlage für den nächsten Schritt auf einem anderen Weg legen kann. Beispielsweise entwickeln sich taube Kinder oft nicht normal, weil sie nicht sprechen lernen und ihnen deshalb Grundlagen für den Erwerb verschiedener geistiger Fähigkeiten fehlen. Wenn man ihnen statt der gesprochenen Sprache eine Gestensprache anbietet, erkennen Menschen, die diese Sprache nicht kennen, oft nicht einmal, daß das Kind eine Sprache gelernt hat. Die weitere geistige Entwicklung ist dann aber nicht mehr blockiert und das Kind macht die üblichen Entwicklungsschritte durch2.. Er erklärte mir, daß ich sehr vieles auf solchen Nebenwegen erlernt hattte, weil der normale Weg blockiert gewesen wäre und wies mich darauf hin, welche Literatur ich dazu lesen konnte3.. Weil ich vieles aber nicht auf dem normalen Wege erlernt hätte, würden Leute, die nicht die Ausbildung einen Schwarzen Ritters hätten oft nicht erkennen, daß ich es beherrsche.

Nachdem ich das alles angesehen hatte, war ich ganz seltsam berührt, daß die Schwarzen Ritter ausgerechnet mich - ein Kind, bei dem ich beim besten Willen keine positiven Eigenarten entdecken konnte - mitgenommen hatten und mir gezeigt hatten, daß es so etwas wie Liebe und Freundschaft überhaupt gibt, während all die anderen, die sich doch etwas weniger unmöglich benommen hatten als ich, diese Hilfe nicht bekommen hatten.

Warum war ich gerettet worden und sie nicht?

Kersti

Fortsetzung:
F1159. Khiris: "Ich habe, als du fünfzehn warst, ziemlich viel waffenlosen Kampf trainiert, weil ich nie in die Verlegenheit kommen wollte, daß ich vor Dir Angst habe." meine Karon