erste Version: 6/2019
letzte Bearbeitung: 7/2019

Chronik des Aufstiegs: Die Pforten der Hölle - Die Beschützer der Menschheit vor den Geistern der Verzweiflung

F1317.

Khar fand das völlig natürlich, wer in der Nacht Schlafenden die Kehle durchschneiden will, müsse schließlich damit rechnen, daß diese ein Messer unter dem Kopfkissen hätten und den Spieß umdrehen würden

Vorgeschichte: F1316. Khar: Was wir dem Polizisten nicht deutlich machten, war, daß wir gleichzeitig die Wagen beluden und die Leute aufbrachen, bevor wir ihn gehen ließen

Der Leiter des Prager Ordenshauses erzählt:
Khar kam unangemeldet zu uns. Das war ungewöhnlich, da er gar nicht die Zeit hatte, uns mal so zum Spaß zu besuchen, besonders weil er mehrere Verletzte zuhause hatte, um die er sich kümmern mußte und selber noch eine nicht vollständig verheilte Beinverletzung hatte, wegen der er sichtlich hinkte. Ich fragte mich, warum er nicht auf dem Weg nach Japan war, wo er eigentlich längst sein sollte, um sich vor den Unmenschen in Sicherheit zu bringen, die ständig ihn und seine Angehörigen angriffen.

Diese Frage stellte ich ihm dann auch, sobald ich ihn allein in meinem Arbeitszimmer hatte.
"Weil wir heute nacht durch eine zehnfache Übermacht angegriffen wurden, die durch die Fenster in das Schloß eingestiegen sind." antwortete er.
Jetzt fragte ich mich, warum er nur hinkte.
"Und wie habt ihr darauf reagiert?"
"Nun ja, die fünf, die bei mir ins Zimmer eingestiegen sind, habe ich fast alle erledigt, bevor sie auch nur bemerkt haben, daß ich wach bin. Mit dem Rest wurde es haariger, aber sie waren nicht sehr gut organisiert, so daß wir sie nacheinander erledigen konnten."
Das war ein typischer Khar. Es konnte gar nicht so einfach gewesen sein, wie er das darstellte, aber etwas anderes als solche Sprüche bekommt man nach tödlich gefährlichen Situationen nie aus ihm heraus. Daß ihm die Angelegenheiten Sorgen machen, merkt man dann nachher daran, daß er wie besessen alles trainiert, was einem im Kampf nützlich sein kann und so lange recherchiert, bis er genau weiß, wann der Papst frühstückt. Das ist übrigens keine Übertreibung. Bei irgendeiner Gelegenheit hat er mir tatsächlich eine sehr absurde und völlig unbedeutende Geschichte über das Frühstück des Papstes erzählt, die er als unwesentliches Nebenprodukt seiner Recherchen erfahren hatte.

Eigentlich frage ich mich sowieso, warum er noch lebt. Mordanschläge auf ihn und seinen Vater haben nämlich begonnen, als er noch ein Kleinkind war. Als er 16 war, wurde seine gesamte Familie bei einem Angriff ermordet, der beinahe auch ihm das Leben gekostet hätte. Und er scheint in einer Welt zu leben, die andere nur aus Märchen kennen, wo Magie Menschen ermorden und in den Wahnsinn treiben kann. Ich habe mit diversen Zeugen geredet, die solche Dinge mitbekommen haben. Und trotz allem, was er erlebt hat, ist er dieser sanfte und freundliche Mann geblieben, dem man nie zutrauen würde, daß er einem Kind ein Haar krümmt. Aber dieser Eindruck täuscht. Zwar habe ich nie gehört, daß er einem Kind, einer Frau oder einem Tier etwas zuleide getan hätte. Auch Untergebene hatten von ihm nichts als Fürsorge zu erwarten. Es ist auch nicht leicht, ihn so zu provozieren, daß er ein böses Wort sagt. Aber wer versucht, ihn zu ermorden, ist des Todes.

Ich fragte, ob es Verletzte gegeben hatte.
"Miras Bauchwunde ist wieder aufgerissen. Davon abgesehen nichts ernstes." antwortete er.
Mira war noch ein Kind und es konnte ihn auch nicht so kalt lassen, wie seine knappe Antwort nahelegte, denn er war allen damit auf den Geist gefallen, daß man ein paar Wunder vollbringen müßte, um sie zu schützen. Es ist natürlich nicht ganz fair, das so zu sagen - nur kann ich davon trotzdem keine Wunder vollbringen. Das kann Khar vielleicht, wenn man sich so anhört, was für Geschichten über ihn umgehen. Ich dagegen bin nur ein ganz normaler Sterblicher. Er mußte ein paar Wunder vollbracht haben, um diese Kinder Mira und Geron - am Leben zu halten und es ging hartnäckig das Gerücht um, daß seine Stute ein Märchenwesen wäre, die er im Wald gefunden hat, als der liebe Gott den 16-Jährigen vom Tode zurück geschickt hatte, damit er seinen Ordensstandort rettet. Außerdem wird von diesem Märchenpferd behauptet, daß es, wenn er sich im von ihm magisch herbeigerufenen Nebel der Nacht verbirgt, um seinen Verfolgern zu entfliehen, Flügel wachsen lassen kann und ihn damit sicher durch jeden Sturm trägt. Die Stute war wohl ursprünglich ein ganz gutes Pferd, sieht aber aus, als wäre sie als junges Pferd schwer mißhandelt worden. So benimmt sie sich auch und beißt und tritt jeden, der versucht, sie anzufassen, Khar ausgenommen, den sie für den einzig guten Menschen auf der Welt zu halten scheint. Wie ein Zauberpferd sieht sie jedenfalls nicht aus und ich glaube, daß Khar sie nur zu seinem Lieblingspferd erkoren hat, weil er Mitleid mit dem armen mißhandelten Tier hatte und weil sie sonst sowieso niemand reiten kann.

Ich fragte ihn zu Einzelheiten des nächtlichen Angriffes, erfuhr, daß die Kinder offensichtlich genauso tödlich gefährlich sind wie Khar selbst. Sie waren zwar beide noch nicht wirklich von schweren Verletzungen des letzten Angriffes genesen gewesen - aber die ersten nächtlichen Angreifer, die versucht hatten, den Kindern etwas zuleide zu tun, haben diesen Versuch nicht überlebt. Die erwachsenen Verteidiger kamen ihnen erst danach zu Hilfe. Khar fand das völlig natürlich: Wer in der Nacht Schlafenden die Kehle durchschneiden will, müsse schließlich damit rechnen, daß diese ein Messer unter dem Kopfkissen hätten und den Spieß umdrehen würden. Klar, das passiert jedem, der so etwas versucht, da muß man nur die Polizei fragen, die wird einem sicher tausend solche Geschichten erzählen!

Nebenbei gesagt, hatte der Junge Geron angeblich auch so ein Zauberpferd, das sprechen kann. Und fliegen soll es auch können, denn angeblich soll es den steilen Felshang der Burg, in dessen Nähe der Junge aufgewachsen ist, mitten in der Nacht hinuntergekommen sein, ohne sich den Hals zu brechen. Mir kam das Pferd vor allem zu feurig für ein Kind und außerdem zu jung vor. Der Reitlehrer des Jungen wollte Geron jedenfalls nicht auf dem Tier reiten lassen. Ich konnte ihn da sehr gut verstehen, denn schon mit erwachsenen Stuten war der Junge eine Marke, die jeden Reitlehrer, dessen nicht unwichtigste Aufgabe darin besteht, die Sicherheit der Kinder zu gewährleisten, denen er das Reiten beibringt, in den Wahnsinn treibt. Ich kannte den Mann und jedes mal, wenn ich mit ihm gesprochen habe, waren die verrückten Ideen des Jungen sein wichtiges Gesprächsthema, das mich fürchten ließ, bei einer dieser Gelegenheiten würde der gute Mann vor Schreck tot umfallen. Wie gesagt, er wollte ihn nicht auf den unausgebildeten und temperamentvollen Jährling lassen. Leider fragte ihn das Kind nicht um Rat, sondern ritt das Pferd heimlich und unerlaubterweise zu. Daß dabei nichts passiert ist, konnte der arme Mann nicht fassen, als der Junge ihm mitteilte, daß sein Pferd doch längst zugeritten wäre und daß es Zeit sei, ihm jetzt die schwierigeren Dinge beizubringen. Danach gab der Mann widerwillig nach, weil er dachte, daß er besser dabei ist, um den Jungen von den tollkühnsten Kunststücken abzubringen. Offensichtlich hatten Pferd und Reiter einander als verwandte Seelen erkannt, denn gegenseitig taten sie sich nichts, dafür trieben sie ihr gesamtes Umfeld in den Wahnsinn.

Ich brauchte Khar nur auf den Hengst anzusprechen, damit er mir mit verschmitzen Gesichtsausdruck zwei weitere solche Schoten erzählte. Als ich ihn fragte, ob er denn keine Angst hat, daß Geron dabei etwas passiert, meinte er:
"Die beiden sind doch befreundet. Der Hengst paßt schon auf, daß seinem Reiter nichts passiert."
Aha. Na auf solche Ideen kann nur Khar kommen. So weit ich mich erinnere, hatte er als Kind auch so ein Wahnsinnstier geritten mit denselben Effekten auf seinen bedauernswerten Reitlehrer. Und Tharon, der damals noch den Standort geführt hat, hatte auch gesagt, die wären doch befreundet, da würde nichts passieren. Ich frage mich, ob sie diesen Wahnsinn irgendwie vererben ... wobei wenn man recht überlegt, kann das nicht sein. Tharon hat sich gegenüber Khar zwar wie ein Vater verhalten, er war aber nicht einmal verwandt mit ihm. Ebenso verhielt die Khar gegenüber Geron wie ein stolzer Vater, war aber auch nicht mit ihm verwandt, wenn man mal davon absieht, daß er vor kurzen dessen Mutter geheiratet hatte.

"Ach übrigens, die Polizei wird hierher kommen." sagte Khar unvermittelt.
"Wieso?" fragte ich.
"Sie sind zum Schloß gefahren und dürften inzwischen herausgefunden haben, daß wir nicht mehr da sind. Ich glaube nicht, daß sie das so lustig finden." antwortete er. Khar wirkte als würde er das für einen guten Witz halten.
Dann war er in Prag gewesen, um den Vorfall zu melden? Das gab Sinn. Es war wichtig, immer angemessen mit der Polizei zusammenzuarbeiten.
"Hast du ihnen denn nicht gesagt, daß ihr nach Japan fahrt?" fragte ich.
"Nein. Ich wollte ihnen keine Gelegenheit geben, uns das zu verbieten." antwortete er.
Ach du meine Güte!
"Und wie willst du das der Polizei erklären?" fragte ich.
"Genau so. Mit der Wahrheit fährt man immer am Besten." sagte Khar, der einem dann Wahrheiten ins Gesicht sagt, die aus einem Märchenbuch entsprungen sein könnten. Dummerweise redet er nicht nur über diese Wahrheiten, sondern führt sie einem auch vor, so daß man sich nachher nicht mehr sicher ist, was in dieser Welt möglich und was unmöglich ist.
"Und wenn sie dich einsperren?" fragte ich.
"Sie werden mich nicht umbringen." antwortete er.
So konnte man das auch betrachten. Mir fiel dazu nichts mehr ein.

Die Polizei kam wirklich. Sie waren sehr verärgert und nahmen ihn wirklich mit. Khar schien das nicht zu beeindrucken, er meinte nur, sie bräuchten doch nicht so mit ihren Waffen herumfuchteln, er würde doch freiwillig mitkommen.

Kersti

Fortsetzung:
F1319. Khar: Ich hatte schließlich einen unerschöpflichen Vorrat an wahren Geschichten, mit denen man normale Leute so schockieren kann, daß man ihnen damit den Mund stopft