erste Version: 12/2019
letzte Bearbeitung: 12/2019

Das Sternenreich der Zuchtmenschen: Der Bruder des Prinzen

F1575.

Tanan fragte mich, ob ich jetzt wüßte, warum er die Straferfilme für echt hielt

Vorgeschichte: F1574. Der Leibarzt des Königs, Kiwar von Lenniskalden: Es gibt Zeiten, da hasse ich meinen Beruf

Der Leibarzt des Königs, Kiwar von Lenniskalden erzählt:
Ich war noch unter dem Vater des heutigen Königs im Palast angestellt worden. Sein Sohn, der mich zu seinem Leibarzt gemacht hatte, als der Arzt seines Vaters zu alt geworden war, war kein unfreundlicher Mensch, aber ich fand, daß er sich manchmal viel zu wenig Gedanken machte, was seine Befehle für seine Untergebenen bedeuten.

Ein typischen Beispiel dafür war die Geschichte mit Tanan LZB45-321-37, dem neuen Palasttechniker, den der König mitgebracht hatte, als er von seiner Reise zu einem anderen Planeten zurückkehrte. Bei der Gelegenheit hatte er auch zwei Kinder mitgebracht, die vorher nicht da gewesen waren und von denen er steif und fest behauptete, sie wären seine. Das konnte aber nicht sein, denn die Reise hatte ein halbes Jahr gedauert und das ältere Kind, der Kronprinz Talis vom hohen Licht fing schon an zu laufen. Natürlich liegen mindestens neun Monate zwischen zwei Kindern, wie jeder Mensch weiß. Außerdem habe ich gesehen, daß der letzte Anschlag ihn kastriert hat. Selbstverständlich habe ich das Offensichtliche nicht einmal angedeutet, sondern seine neuen Kinder als seine Kinder behandelt. Woher er die Kinder hatte, wurde mir klar, als Tanan mir auf die Frage, warum er ständig den kleinen Talis bei sich hatte, antwortete, daß das doch sein kleiner Bruder wäre.

Jedenfalls bekam ich gesagt, daß Tanan LZB45-321-37, damit er die Königliche Familie überhall hin begleiten könnte, die Implantate bekommen sollte, die man braucht, um große Beiboote von Sternenschiffen und auch kleinere Sternenschiffe direkt mit den Implantaten zu fliegen. Gerade am Vortag war sein Vorgänger Salich vom Licht daran gestorben, daß diese Implantate ihn buchstäblich vergiftet hatten und da ich nur wenig hatte tun können, um es ihm ein wenig leichter zu machen, wollte ich nun wirklich keine Operation durchführen müssen, die noch mehr Gift in den Körper von Tanan einpflanzt. Der König meinte, ich hätte eine Woche Zeit, um alles vorzubereiten und solle ihm dann bescheid sagen.

Ich stellte beinahe sofort fest, daß es im Netz hier auf dem Planeten keine vollständige Anleitung für diese Art von Operationen gab. Alle derartigen Operationen fanden auf der Zuchtstation statt, die bei einem anderen Planeten lag. Daher recherchierte ich, bis ich zumindest alles wußte, was ich darüber unbedingt wissen mußte, um dem jungen Mann nicht mehr als unvermeidbar zu schaden.

Das erste, womit Tanan mich überraschte, war daß er ohne Begleitung, kurz nachdem der König ihm das hatte sagen wollen, bei mir auftauchte. Normalerweise begleitet jemand den Patient zur Operation, wenn es um so etwas geht, weil die meisten sonst erfolglos versuchen würden, sich davor zu drücken. Er wirkte auch völlig gelassen und entspannt. Als nächstes überraschte er mich mit dem Wunsch, genau erfahren zu wollen, wie die Operation abläuft, denn das könne ja wohl keine Standartoperation sein. Ich kam auf den Gedanken ihn zu fragen, ob er denn wüßte, wie die Standartoperation durchgeführt wird und erwartete nichts besonderes, doch schon der Anfang der Erklärung enthielt einige Details, die ich nicht gewußt hatte. Also fragte ich genauer nach und stellte fest, daß er so genau darüber bescheid wußte, als wäre er ein Arzt, der diese Operation selber regelmäßig durchführt, nicht etwa, wie man das vielleicht von einem sehr interessierten Patienten erwarten würde. Daher rief ich meine Assistentin rein, um die durch seine Erklärungen gegebenen Änderungen mit ihr zu besprechen und während ich das tat, packte er noch viel mehr Fachwissen aus, um weitere Details zu erklären. Als ich ihn dann fragte, ob er Medizin studiert hätte, wirkte er verwirrt durch meine Frage und antwortete, er hätte nur einen Erste-Hilfe-Kurs. Ich frage mich echt, was die unter einem Erste-Hilfe-Kurs verstehen.

Tanan wirkte nicht, als würde ihn die Operation in irgendeiner Form beunruhigen. Er legte sich anstandslos hin und ich stellte den Lähmstrahler an. Dann operierte ich ihn und nach der Operation war er zunächst bewußtlos. Es dauerte auch ein paar Tage, bis er erkennbar reagierte, wenn ich zu ihm kam. Dann öffnete er aber jedesmal die Augen und wirkte sehr gequält, auch wenn er nichts sagen konnte, weil ja der Zugang für künstlichen Beatmung und Ernährung die Luft am Kehlkopf vorbeileitete.

Nach einer Woche war ich mir noch längst nicht sicher, ob er sich genug erholt hatte, um aufzustehen, aber ich konnte auf jeden Fall mal den Zugang für künstliche Ernährung ausstöpseln, so daß ich ihn fragen konnte, wie es ihm geht.
Ehe ich irgendetwas sagen konnte, fragte er mich, ob er jetzt aufstehen dürfe.
"Darüber versuche ich mir gerade klar zu werden." antwortete ich.
"Wie lange ist die Operation denn her?" fragte er.
"Eine Woche." antwortete ich.
Er begann sich so schnell loszuschnallen, daß ich sprachlos war und erklärte mir dabei, daß er dann davon ausgeht, daß er aufstehen kann, denn eine Woche nach den Operationen an Unterleib und Kehle dürfe man normalerweise aufstehen. Wenn es da keine unerwarteten Probleme gegeben hätte - und das hätte er ja bemerkt - wäre das jetzt ausreichend verheilt. Er saß schneller auf der Bettkante und begann sich anzuziehen, als mir die passende Antwort eingefallen war.
Ich fragte ihn, wie es ihm ging.
"Elend", antwortete er, grinste mich an und fuhr dann fort, "aber das ist nicht was sie wissen müssen. Also, noch mal ausführlicher. Der Hals zieht noch etwas, wenn ich ihn bewege, was wohl heißt, daß ich noch etwas vorsichtig sein muß und die Narbe noch nicht voll belasten kann. Die Narbe am Bauch ebenfalls, da stört mich aber, daß der künstliche Darmausgang zu groß ist und mich etwas bei den Bewegungen nach rechts behindert. Ich glaube, das ist einfach so, daran muß ich mich gewöhnen. Es gibt keinerlei Anzeichen daß da etwas entzündet ist, wenn ich mich nicht bewege merke ich davon nichts mehr. Am unangenehmsten fühlen sich die eingepflanzten Drähte an, die immer noch zu Dauerschmerzen führen, aber das ist etwas, worum man sich zunächst keine Sorgen machen muß, wer daran stirbt, stirbt in den ersten Tagen nach der Operation, bevor er wieder richtig wach geworden ist oder zwanzig Jahre später, wenn die Vergiftungssymptome überhand nehmen." erklärte er mir.

Ich fragte ihn, warum er vor der Operation so sorglos gewesen war. Ob er denn nicht geahnt hätte, wie schlimm es werden würde.
"Doch, ich habe es sogar ziemlich genau gewußt. Mir sind ja schon einmal Drähte eingepflanzt worden, daher wußte ich daß ich einige Tage außer Schmerzen nicht anderes fühlen würde. Das ändert nur nichts daran, daß ich eben nichts dagegen tun konnte. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum die Freigeborenen in solchen Situationen wegzulaufen versuchen, obwohl sie doch auch wissen, daß sie keinen Erfolg haben werden." antwortete er.
Ich bezweifelte, ob ihnen das wirklich so klar war.
"Es gibt schon Freigeborene, die richtige Fluchtpläne machen. Das kann ich schon verstehen und ich glaube, daß wir so etwas eher zu selten versuchen oder seltener, als es vernünftig wäre, weil wir auf Fügsamkeit gezüchtet sind. Aber meist wirkt es eher, als würden sie im ungünstigst möglichen Augenblick in Panik geraten und dann einfach weglaufen, nicht als hätten sie etwas näherungsweise Vernünftiges geplant. Und das kann man sich doch eigentlich wirklich sparen." antwortete er.

Irgendwie war Tanan in einer gesprächigen Stimmung, denn er erzählte mir sehr viel von seiner Kindheit, wie er in der Zuchtstation aufgewachsen ist. Dabei erklärte er auch, warum er nicht versucht hatte zu verschwinden. Ihnen wurden nämlich als Kinder immer wieder so Filme gezeigt, die man Straferfilme nennt und dazu gehörte auch, wie es Leuten ergeht, die Operationen zu entfliehen versuchen. Als ich ihn fragte, ob es nicht sein könnte, daß ihm da etwas vorgespielt worden sei, sagte er nur "Geron, kannst du Kiwar mal einen Straferfilm zeigen?"

Geron zeigte mir danach Silmor, denn ich kurz kennengelernt hatte, als dessen Herr den Palast besucht hatte. Er war auffallend geistesabwesend gewesen und ich hatte ihn gefragt, was den los sei. Daraufhin hatte er mir erzählt, daß er glaubte, daß sein Herr etwas furchtbares mit ihm vorhätte, war dabei aber nicht sehr genau gewesen. Danach hatte ich nie wieder etwas von ihm gehört, nur die Angst in seinen Augen hatte ich nicht vergessen können. In dem Straferfilm wurde mir gezeigt, wie Silmor zuerst einen Fluchtversuch aus einer Art Klinik startete. Irgendwann wurde er wieder zurückgebracht, nur konnte er nicht mehr gehen, sondern krabbelte. An den Händen fehlten die Finger, an den Beinen waren die Sehnen durchgeschnitten, wie sein Herr nebenher bemerkte. Als er sich wieder in seinem Schlafraum befand, wurde er gefragt, ob er jetzt endlich bereit sei, zur Operation zu gehen. Er bettelte, ihn zu verschonen. Er wurde mit dem Strafer gefoltert, bis er nur noch ein wimmerndes Bündel Elend war. Sobald er anworten konnte, wurde ihm dieselbe Frage gestellt, die er wieder mit Nein beantwortete, mit demselben Ergebnis. Geron spulte den Film vor und meinte, das wäre jetzt eine Scene einige Tage später. Sie folterten Silmor mit dem Strafer, bis er schließlich sagte, er würde alles machen was sie ihm sagen, wenn sie nur damit aufhören. Er hatte die Operation nicht überlebt.

Ich fragte Geron, woher er diesen Film hatte und er erklärte, daß die Klinik zwar nicht in seinem Überwachungsbereich lag, aber er hätte sich eben auch mit Silmor unterhalten und hätte deshalb bei dem zuständigen Gehirn nachgefragt, was aus ihm geworden war.
Tanan fragte mich, ob ich jetzt wüßte, warum er die Straferfilme für echt hielt. Ich antwortete nicht, weil ich einfach zu entsetzt, von dem, was ich gesehen hatte, war.
"Meist kann man die Betroffenen nachher fragen, ob das echt war." sagte er.
In diesem Fall konnte ich die Frage nicht mehr stellen, ich hatte aber auch so keinen Zweifel.
"Ich denke mir halt, daß das Leben schon schwierig genug ist. So etwas brauche ich nicht noch zusätzlich."

Tanan überraschte mich dadurch, daß er mich nach diesem Gespräch als seinen Freund zu betrachten schien. Andere Leute, bei denen ich Operationen hatte durchführen müssen, die ich lieber nicht gemacht hätte, haben mich danach immer feindselig behandelt und geschnitten. Warum er das nicht tat, war mir unklar.

Geron oder Silmor waren Freigeborene wie ich, die durch irgendetwas in solche wirtschaftliche Probleme geraten waren, daß man sie einfach an eine solche Versuchsanstalt hatte verkaufen können. Ich würde nicht riskieren, daß es mir genauso ging. Außerdem hatte ich eine Frau und Kinder, denen es auch nicht so ergehen sollte.

Kersti

Fortsetzung:
F1584. Tanan LZB45-321-37: "Nein. Du warst einfach weg und niemand hat mir gesagt, wo du warst." meinte Prinz Talis

Quelle

Erinnerung an ein eigenes früheres Leben.
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben