erste Version: 1/2020
letzte Bearbeitung: 2/2020

Das Sternenreich der Zuchtmenschen: Der Bruder des Prinzen

F1607.

"Willst du mir damit sagen, daß du Talis während der Arbeit erklärst, was du gerade machst, gleichzeitig irgend ein Fachbuch liest und noch drei vier Schülern ihre Fragen beantwortest?" fragte ich ungläubig

Vorgeschichte: F1609. Tanan LZB45-321-37: Daher konnte das nur eines bedeuten: Die Vergiftung mußte so weit fortgeschritten sein, daß er sich nach Kräften darum drückte, jemals die Implantate zu verwenden, weil er jedes mal zu heftige Schmerzen hatte

Salich vom Licht erzählt:
Ich wunderte mich, wie fröhlich der junge Mann wirkte, als er mich in den Palast begleitete. Nach den Operationen hatte ich monatelang Schmerzen gehabt und fand, alles Glück wäre aus meinem Leben verschwunden. Ich hätte am liebsten Selbstmord begangen, um diesen Dauerschmerzen zu entgehen. Nur gab es da fünf Kinder, die in genau so einer Situation gelandet wären, wenn ich das getan hätte.

Als ich die Frau meines Freundes geheiratet hatte, hatte sie noch ein kleines Erbe von ihrem Mann und ich hatte ebenfalls ein wenig zurückgelegt und bekam ja auch ein Gehalt. Wir rechneten uns aus, daß es reichen würde, um die Kinder groß zu ziehen, wenn nichts dazwischen kommt und danach konnte sie dann ja selbst wieder arbeiten. Ich stellte fest, daß ich für das jüngste Kind ganz anders empfand als für seine älteren Geschwister. Das war natürlich ziemlich albern, schließlich war ich ein Eunuch und daher könnte ich dieses jüngste Kind gar nicht gezeugt haben. Trotzdem fühlte es sich für mich an, als wäre dieses jüngte Kind das einzige was wirklich mein Kind war. Es war aber etwas dazwischen gekommen, mit dem Ergebnis, daß ich neben dem Geld, das ich noch hatte, auch noch meinen eigenen Kaufpreis, den man immer auf dem Konto haben sollte, um sich freikaufen zu können verbraucht hatte - und das hatte mich letztlich dahin gebracht, daß sie mich zwingen konnten, die Operationen über mich ergehen zu lassen.

Daß ich danach im Palast gearbeitet habe, war sehr gut, weil unsere Kinder deshalb alle kostenlos die Palastschule besuchen konnten. Aber wirklich Lebensfreude hatte ich jahrelang nicht. Ich habe mir immer versprochen, ich halte noch einen Tag durch und dann bringe ich mich um. Mit den Jahren wurden die Zeiträume länger. Im letzten Jahr hatte ich mir einfach gesagt, das letzte Jahr bis zum Abitur meines Sohnes schaffe ich auch noch. Als dann mein jüngstes Kind, den Schulabschluß in der Tasche hatte, dachte ich, daß ich jetzt endlich Selbstmord begehen "darf". Doch dann stellte ich fest, daß ich das gar nicht mehr wollte. Das ist jetzt zehn Jahre her und ich bin jetzt 60 Jahre alt und die Schmerzen werden jetzt wieder so schlimm wie im ersten Monat nach den Operationen. Jeder weiß, was das bedeutet - nämlich daß ich innerhalb von einem Jahr an der Vergiftung sterben werde. Aber jetzt will ich nicht mehr sterben.

Wie auch immer. Damit wollte ich den Jungen möglichst wenig belasten. Ich fragte ihn, ob er schon öfter Flugzeuge geflogen hätte.
"Nein, noch nie. Ich bin auf einer Raumstation aufgewachsen und da gibt es keine Athmosphärenflugzeuge. Daher konnte ich nach den Operationen ein paar mal kleinere Raumschiffe und Beiboote fliegen, aber kein Flugzeug. Ich fand faszinierend, daß der Himmel hier wirklich so blau aussieht wie in den Filmen im Flugsimulator. Eigentlich noch viel blauer und leuchtender. Das hätte ich nie gedacht! Und daß Bäume wirklich so riesig sind, hätte ich nach den Bildern auch nicht gedacht."
Eigentlich war das eine dumme Frage gewesen. Theoretisch weiß ich doch, daß sie nicht einmal die Schule verlassen dürfen, in der sie unterrichtet werden. Damals als ich operiert worden war, gab es die Zuchtstation auch schon und ich hatte sie mir angesehen, um mich von meiner Angst vor der Zukunft abzulenken. Was ich richtig furchtbar finde ist, daß sie dort zehnjährige Kinder operieren, weil sie meinen, es wäre zu teuer, sie ganz aufzuziehen. Ich frage mich wie so kleine Kinder damit fertig werden sollen, daß sie so ewig lange unerträgliche Schmerzen haben. Und weil man die Operationen nur zwanzig Jahre überlebt, werden sie dann gerade mal dreißig Jahre alt, bis sie unter furchtbaren Qualen sterben. Und dieser fröhliche junge Tanan wird lediglich vierzig werden. So alt war ich, als ich operiert wurde.

Ich zeigte ihm also zuerst die Werkstatt. Er sah mit einem kurzen Blick, wie viel Arbeit liegen geblieben war, sah bestürzt aus und fragte mich:
"Ist es schon so schlimm geworden?"
Ich nickte, sagte aber nicht viel dazu, weil ich ihn nicht unnötig mit meinen Problemen belasten wollte. Das ließ er aber nicht zu, sondern rief sofort über das Netz meine Krankenakte auf, las sie durch und meinte, daß ich einen wirklich guten Arzt hätte. Er wäre völlig auf dem aktuellen Stand.
Den Eindruck hatte ich auch gehabt. Nicht daß er sofort alles gewußt hatte, aber sobald die ersten Symptome aufgetreten waren, hatte sich Kiwar von Lenniskalden sowohl bei der örtlichen Universitätsklinik als auch bei der Zuchtstation nach den neuesten Behandlungsmethoden erkundigt und sich auch immer wieder neue Informationen dazu zuschicken lassen. Ich fand es aber schon seltsam, daß so ein junger Mensch nur einen Blick auf mein Krankenblatt werfen muß, um das mit solcher Sicherheit sagen zu können.

Während ich ihm erklärte, was von der Arbeit am dringensten war und was noch etwas warten konnte, wirkte er als wolle er sofort anfangen. Ich dachte kurz über die Schule nach und beschloß, daß ich mich um all diejenigen Schüler kümmern würde, die ich innerhalb eines Jahres die Abiturprüfung ablegen lassen konnte. Die langsameren waren auf einem etwa altersgemäßen Stand, aber es war mir gelungen, einige schneller so weit zu bringen, so daß sie noch eine Weile die Schule besuchen mußten, bis sie in den restlichen Fächern auch so weit wären. Bei denen, die sowieso etwas länger als ein Jahr brauchen, sollte der Junge genug Zeit haben, sich an sie zu gewöhnen und unterrichten zu lernen, daß er sie damit nicht in Schwierigkeiten bringt. Ich fragte mich sowieso, warum man der Ansicht war, daß bei diesen Technikern eine abgeschlossene Lehre reicht, während man bei Freigeborenen ein abgeschlossenes Studium für unseren Beruf braucht.

Plötzlich piepte das Tablet, Tanan sah nach, steckte seinen Stecker ein und fragte, ob etwas dagegen spräche, wenn er die Arbeit mit ins Kinderzimmer nimmt. Ich fragte ihn, ob der König ihn sprechen wollte.
"Nein, das war Talis." antwortete er.
Ich dachte, ich hätte mich verhört. Wie sollte so ein kleiner Junge die richtige Nummer eingeben? Tanan stellte sehr schnell einen Wagen mit den nötigen Geräten zusammen und machte sich auf. Ich stellte fest, daß er zwei der langwierigsten dringenden Arbeiten mitgenommen hatte, als würde er ernsthaft glauben, das an einem Abend schaffen zu können. Ich suchte mir irgendetwas heraus, das ich auch ohne Implantate einigermaßen schnell hinkriege und begann zu schrauben.

Ich stellte in den folgenden Tagen fest, daß Tanan meinen aus Krankheit entstandenen Rückstand in der Arbeit in einem Tempo abarbeitete, das ich für unmöglich gehalten hätte, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Er wirkte dabei auch entspannt und jederzeit gut gelaunt, als würde er nur zu seinem eigenen Vergnügen arbeiten. Darüber hinaus hatte er noch Zeit, jedem seiner Schüler neben dem regulären Unterricht auch noch über das Intranet des Palastes Nachhilfe zu geben. Wann er das alles gemacht haben will, ist mir unklar, denn er schien immer damit beschäftigt zu sein, dem Prinzen Fragen zur Technik zu beantworten, die er mit dem einzigen Wort, das er konnte, stellte:
"Da?"
Das Rufzeichen von Tanan ins Tablet eingeben konnte das Kind aber tatsächlich und Tanan schien das auch für völlig selbstverständlich zu halten, wenn ein Kleinkind noch nicht einmal richtig sprechen kann.

"Sag mal, arbeitest du wirklich so gerne, wie es für mich aussieht?" fragte ich ihn.
"Ja. Ich mag meine Arbeit." sagte er und strahlte.
"Wird sie dir denn nie zu viel?"
"Nein, natürlich nicht. Ich habe den Eindruck, daß sie mir ziemlich schnell ausgeht und daß ich mich nach neuer Arbeit umsehen muß." antwortete er.
Ich riet ihm im Scherz, daß er doch mal die Anfragen um technischen Beistand ansehen soll, die es im Stadtnetz gibt, wenn er einen solch schweren Mangel leidet. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, daß er das wenige Tage später tatsächlich tat. Als ich ihn fragte, warum um alles in der Welt er das denn tat, sagte er:
"Weil ich eben wirklich gerne arbeite."
Ich sah ihn etwas verwirrt an und fragte ihn, wie viele Stunden pro Tag er eigentlich arbeiten wollte. Er nannte mir daraufhin eine völlig normale Zeit.
"Aber du mußt doch auch noch die nötige Fachliteratur über neue technische Entwicklungen lesen."
"Das mache ich während der Arbeit. Sonst ist das doch zu langweilig."
"Und wann erklärst du den Kindern ihre Hausaufgaben?"
"Gleichzeitig. Das mache ich doch übers Netz. Da kann man doch gleichzeitig mehreren Kindern die Erklärungen geben. Das ist nicht als müßte man dafür den Mund benutzen, den man nur einmal hat." antwortete er.
"Willst du mir damit sagen, daß du Talis während der Arbeit erklärst, was du gerade machst, gleichzeitig irgend ein Fachbuch liest und noch drei vier Schülern ihre Fragen beantwortest?" fragte ich ungläubig.
"Ja genau. Man kann doch mehrere Anfragen gleichzeitig übers Kabel laufen lassen." antwortete er.
Nein, ich konnte mir nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte, dabei hatte ich denselben Anschluß.
"Ist dein Gehirn vielleicht eine Sonderanfertigung?" fragte ich im Scherz.
"Im gewissen Sinne ist es das. Das kann man auch sehen, denn ich habe einen etwas größeren Kopf als normale Leute. Nicht viel größer, aber es macht schon einen Unterschied. Sie haben halt immer mit denjenigen von uns gezüchtet, die die beste Arbeit leisten. Und da wir keinen anderen Grund haben zu arbeiten als eben der Spaß an der Arbeit, züchtet man damit auch Leute, die gerne arbeiten. Das ist aber auch sehr gut so, denn in der Zeit, die wir nach den Operationen noch zu leben haben, können wir mit dem Gehalt, was sie uns zugestehen, indem sie unseren Abschluß eine Lehre nennen, nicht genug Geld verdienen, um uns freizukaufen. Wenn wir dann nicht einmal Spaß an der Arbeit hätten, wäre das doch wirklich schlimm." antwortete er.
Der Junge war also der Ansicht, daß seine Ausbildung deutlich umfassender war als eine Lehre. Nach dem, was ich bisher von ihm gesehen hatte, mußte ich ihm recht geben. Mir schien es eher, als wäre mir ein ganz besonders begabter junger Mann mit abgeschlossenen Studium geschickt worden, dem man seine Unerfahrenheit nicht an fachlichen Schwächen sondern an seiner Unerfahrenheit mit dem System, anmerkt und dessen mit ein wenig Unsicherheit gekoppelte Lernbereitschaft jeden erfahrenen Universitätsprofessor bezaubert hätte.

Ich sah mir diesen freundlichen jungen Mann an und dachte, daß sie dem armen Kind außer der Arbeit wirklich alles wegnehmen. Er hatte recht. Wenn ihm die Arbeit keinen Spaß machen würde, wäre sein ganzes Leben ein einziges Unglück. Statt dessen wirkte er immer gut gelaunt und freundlich und tat alles, um mir mein Leben angenehm zu machen. Dummerweise war das unmöglich. Ich hatte einfach zu viele Schmerzen. Er vermittelte mir den Eindruck, daß er mich sehr respektieren und lieben würde, was auf mich etwas seltsam wirkte, denn ihm gegenüber kam ich mir wie ein alter kranker Hausdiener vor. Völlig ungebildet. Ich hatte immer darauf geachtet, mich auf dem aktuellem technisches Stand zu halten, doch was er so in drei Nebensätzen an Fachwissen fallen läßt, war einfach nur unglaublich.

Kersti

Fortsetzung:
F1572. Tanan LZB45-321-37: Warum bin ich neidisch auf meine kleinen Geschwister, denen ich doch wirklich von Herzen alles Gute wünsche, aber nicht auf die ganzen Freigeborenen?

Quelle

Erinnerung an ein eigenes früheres Leben.
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben