erste Version: 2/2020
letzte Bearbeitung: 2/2020

Das Sternenreich der Zuchtmenschen: Der Bruder des Prinzen

F1610.

Als ich das sagte, entwickelte Tanan eine Theorie darüber, daß Grausamkeiten an Menschen zu Taubheit bei denen führen würde, die sie begehen

Vorgeschichte: F1608. Tanan LZB45-321-37: "Weißt du, was mich wundert: Du wirkst wirklich so, als wärest du mit dir und der Welt zufrieden." sagte der Arzt plötzlich

Kiwar von Lenniskalden erzählt:
Daß Tanan sich mit dem König richtig gestritten hatte, hatte mich sehr überrascht, denn normalerweise verhielt er sich nach dem Motto 'reden ist Silber, schweigen ist Gold'. Wir haben uns öfter über Gott und die Welt unterhalten, daher weiß ich daß er zu allem ausgeprägte eigene Meinungen hat und am liebsten die ganze Welt politisch umkrempeln würde, damit sie menschlicher wird. Ich hatte mich immer gefragt, wie eigentlich alle auf den Gedanken kamen, Leute wie ihn für halbe Maschinen zu halten, die keine Gefühle haben.

Salich vom Licht, der alte Techniker hatte mir erzählt, daß er den jungen Tanan möglichst wenig mit seinen Problemen belasten wollte und deshalb in seiner Anwesentheit nicht über seine Schmerzen reden würde. Mir war damals schon aufgefallen, daß Tanan sehr rücksichtsvoll mit Salich umging und alles tat, was man tun konnte, um ihm mal eine kleine Freude zu machen. Salich hatte das als Respekt gegenüber dem Alter gedeutet. Daß Tanan mich öfter fragte, ob ich diese oder jene medizinische Erkenntnis schon gehört hätte, die mit der Behandlung der Schmerzen wegen den Implantaten zu tun hatte, ließ mich damals schon daran zweifeln.

Als ich sagte, daß mich wundert wie zufrieden er eigentlich wirkten würde, hielt mir Tanan einen stundenlangen Vortrag über Schmerzen und wie man am klügsten damit umgeht. Nicht daß ich versucht hätte, ihn zu bremsen, schließlich hatte ich als Arzt ständig mit Menschen zu tun die Schmerzen haben und nicht wissen, wie sie damit fertig werden sollen. Er hatte offensichtlich seit frühester Kindheit Unterricht bekommen, was man macht, wenn man nicht weiß, wie man mit Schmerzen fertig werden soll. Offensichtlich war seinesgleichen auch der Ansicht, daß es keinen Sinn macht, Kinder von dem Wissen darum, wie schlimm Schmerzen werden können, zu verschonen. Natürlich machte es auch keinen Sinn bei ihnen, schließlich wurden in der Zuchtstation zehnjährige Kinder diesen grausamen Operationen unterzogen. Daß Tanan nicht in dem Alter operiert worden war, lag daran, daß er zur besseren Hälfte seiner Klasse gehört hatte. Er erzählte so exakt, wie sich dieses letzte Jahr anfühlt, bevor man schließlich unter fruchtbaren Qualen stirbt, daß ich nachher wußte, daß Salich sich offensichtlich bemüht hatte, auch mich von dem Wissen über seine Schmerzen zu verschonen. Nicht vollständig, nur so weit, daß er gerade genug darüber geredet hatte, daß ich mich getrieben fühlte ständig nach neuem Wissen zu suchen, wie man ihm helfen kann, aber nicht völlig entmutigt aufgegeben habe, weil es nichts bringt.

Während der Trick mir gegenüber funktioniert hatte, hatte Tanan offensichtlich sehr genau gewußt, wie es Salich ging. Er hatte an kleinsten Reaktionen gemerkt, welche Schmerzen Salich hatte und genau so reagiert, wie ich reagiert hätte, wenn jemand vor Schmerzen weint. Er hatte auch nicht gedacht, daß Salich nicht über seine Schmerzen redet, sondern Tanan zitierte auf meine Behauptung, daß sie ja offensichtlich nicht über ihre Schmerzen reden, sondern sich stattdessen gegenseitig genau beobachten, mehrere Sätze die Salich auf seine Fragen nach den Schmerzen geantwortet hatte und die für ihn völlig eindeutig gewesen waren. Was Salich für "nicht darüber reden" gehalten hatte und was bei mir auch so gewirkt hatte, war für Tanan offensichtlich durchaus ein richtiges Gespräch gewesen, bei dem jede Information, die er brauchte, völlig eindeutig und unmißverständlich angekommen war.

Als ich das sagte, entwickelte Tanan eine Theorie darüber, daß Grausamkeiten an Menschen zu Taubheit bei denen führen würde, die sie begehen. Bei dem König wäre sie ganz extrem, bei mir weitaus weniger ausgeprägt.
"Ganz so stimmt das aber nicht, Tanan. Ich habe keine schweren Dauerschmerzen und habe so etwas auch nie in meinem Leben gehabt, deshalb kann ich gar nicht wissen, wie du dich fühlst, ohne daß du es mir genau erklärst. Und das hast du heute das erste mal in meiner Gegenwart getan. Offensichtlich führen Grausamkeiten ja zu Stummheit, bei denen, denen sie angetan werden." gab ich zurück.
Tanan war offensichtlich gar nicht bewußt gewesen, daß er mir nie gesagt hatte, daß er überhaupt Schmerzen hat. Er sagte übrigens, daß er das schon gesagt hat, nämlich als ich ihn gefragt habe, als er aufstehen wollte. Das stimmte natürlich, aber ich hatte angenommen, daß alles wieder gut ist, als er einfach zur Tagesordnung übergegangen war und die Schmerzen dann nie wieder erwähnt hatte. Ich hatte nicht gewußt, daß man nach den Operationen den ganzen Rest seines Lebens Schmerzen hat, die man nur zunehmend besser ausblenden kann, offensichtlich einfach weil man es übt. Salich hatte nämlich auch irgendwann aufgehört, darüber zu reden.
"Man bekommt aber auch verboten darüber zu reden." antwortete Tanan.
"Ich habe es dir aber nicht verboten."
"Nicht direkt. Man merkt dir aber schon an, daß es dir unangenehm ist, wenn man darüber redet."
"Soll ich mich etwa darüber freuen?" fragte ich.
"Nein. Es ist nur so, daß viele Freigeborene einen bestrafen, kurz nachdem dieses unangenehm-fühlen beginnt. Also habe ich mich nicht getraut weiterzusprechen und ich habe halt lange gebraucht, bis mir klar wurde, daß du so etwas nichts tust und daß der König es auch nicht tut. Sonst hätte ich mich nicht getraut, so mit dem König zu reden, wie ich es heute getan habe." erklärte er.
Ich fragte, inwiefern er denn dafür bestraft worden sei.
"Silman kannst du Kiwar mal einen Straferfilm zeigen?" fragte Tanan.
Der Straferfilm den das Schiffsgehirn Silman vom Licht zeigte, handelte von seinem Techniker. Er war damals noch ein Kind und wurde morgens geweckt. Dann wurde ihm mitgeteilt, daß er noch am selben Tag kastriert würde zur Strafe dafür, daß er mit seinen Geschlechtsorganen herumgespielt hatte. Der Junge protestierte nicht, sondern kam nur brav mit, legte sich folgsam auf die Behandlungsliege und wurde verschnitten. Er tat auch danach alles was ihm gesagt wurde, ohne sich zu beklagen. Irgendwann im Verlaufe desselben Tagen begegnete ihm ein Freigeborener, faßte ihm zwischen die Beine, worauf der Junge mit einem Wimmern reagierte. Der Mann fuhr ihn an, er solle nicht so tun als würde ihm das keinen Spaß machen. Der Junge meinte daraufhin, daß ihm das doch wehtäte, weil er doch heute verschnitten worden sei. Der Freigeborene folterte den Jungen mit dem Strafer, bis das arme Kind wimmernd am Boden lag. Silmar erklärte, daß das Kind überhaupt nicht selber an seinen Geschlechtsteilen herumgespielt, sondern daß es immer dieser unfreundliche Freigeborene gewesen sei, dem es nach Kräften ausgewichen war. Ich fragte, warum es dann für das Fehlverhalten eines Kinderschänders bestraft wurde.
"Es geht dabei nicht eigentlich um Strafen. Die Techniker sollen keine sexuelle Erregung kennenlernen, daher werden sie kastriert, wenn so etwas passiert." antwortete das Schiff.
Ich fragte, wie denn ein so kleines Kind mit so etwas fertig werden soll.

"Wie ist denn Tanan damit fertiggeworden, daß der König ihm befohlen hat, sich operieren zu lassen?" fragte das Gehirn.
Ich sah Tanan an. Er erwiderte nur wortlos meinen Blick. Also erklärte ich, was mich so verwirrte.
"Ehrlich gesagt verstehe ich das überhaupt nicht. Er ist einfach zur Operation gekommen und danach wieder zur Tagesordnung übergegangen, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen. Es wirkt fast, als sei ihm das völlig gleichgütig, und dann plötzlich kommt so etwas wie heute und ich weiß, daß ich mich getäuscht habe. Eigentlich war mir natürlich vorher schon klar, daß es nicht so einfach sein konnte, wie es erscheint. Aber ich verstehe einfach nicht, warum das so ist."
"Es ist nichts Ungewöhnliches geschehen. Jeder, mit dem ich aufgewachsen bin, wurde mindestens einmal operiert. Die häufigste Standartoperation setzt sich aus zwei Operationen zusammen, die um nichts besser sind, als das, was ich erlebt habe. Zwanzig Jahre Dauerschmerzen inbegriffen." antwortete er.

Ich fragte Tanan, wie viele von den unsäglich grausamen Straferfilmen es eigentlich geben würde.
"Silmar wie viele Straferfilme hast du?" fragte Tanan.
"2781." antwortete das Gehirn.
Tanan gab keinen weiteren Kommentar dazu ab. Das war auch nicht nötig, denn diese Zahl reichte völlig, damit ich einfach fassungslos war, besonders weil mir klar war, daß das nicht alle Straferfilme waren, die es im Reich gab. Nur Silmars persönliche Sammlung. Wie persönlich diese Sammlung war, konnte man daran erkennen, daß dieser Straferfilm von Silmars eigenen Techniker gehandelt hatte, zu dem er eine enge Beziehung hatte.
"Und wie oft hast du so im Schnitt solchen völlig sinnlosen grausamen Strafen bekommen Tanan?"
"Da war sehr unterschiedlich. Wenn es gerade irgendein Freigeborener auf mich abgesehen hatte, konnte das mehrfach täglich sein, manchmal hatte man auch monatelang Ruhe. Manche haben einen nur mit konkretem Grund bestraft, bei anderen war es offensichtlich eine Laune." antwortete Tanan.
Ich fragte Tanan ob er wüßte, daß das Palastgehirn Geron den Auftrag hatte Mißhandlungen von Sklaven zu melden und daß Diro von Karst als junger Mann mehrfach Palastverweis erhalten hatte, als er Sklaven mit dem Strafer ohne angemessenen Grund bestraft hatte.
"Ach deshalb bin ich in den letzten zwei Jahren kein einziges mal bestraft worden!" sagte Tanan als wäre es das seltsamste von der Welt, wenn so ein rücksichtsvoller, fleißiger und gehorsamer Mensch wie er nicht bestraft wird.
"Das sollte doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein!" sagte ich.
"Ist es aber nicht. Es ist die positive Ausnahme." sagte Tanan.

Dann wurde mir klar, daß ich jetzt auch wußte, warum Tanan so zufrieden wirkte. Was er im Palast erlebte, war eben tatsächlich besser als das, was er in seiner Kindheit als normal kennengelernt hatte.

Kersti

Fortsetzung:
F1611. Tanan LZB45-321-37: Ich verstand einfach nicht, warum alle so taten, als wäre alles in Ordnung

Quelle

Erinnerung an ein eigenes früheres Leben.
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben