erste Version: 9/2021
letzte Bearbeitung: 9/2021
Vorgeschichte:
F2115.
D
Seman, der Hohepriester erzählt:
Ich verstand es einfach nicht. Für Moses schien alles einfach zu sein. Ich konnte mich noch genau an meine Hilflosigkeitsprüfung erinnern und wie ich wochenlang gehungert hatte, weil ich nicht über mein Problem reden durfte, ehe jemand bemerkte, was los war und mir half. Und Moses geht zum Abendessen und findet sofort jemanden, der ihm hilft? Wie macht er das? Wir warteten die üblichen drei Tage, bis wir ihn endgültig befreiten und die Prüfung als bestanden werteten. Trotzdem konnte ich das einfach nicht glauben. Gab es für ihn denn gar keine Probleme auf der Welt? Und wenn ja warum nicht? Er erhielt doch gar keine Sonderbehandlung! Ach ja und natürlich war er von glühend heißen Messern, mit denen man ihm Löcher in den Arm schneidet, auch im Nachhinein völlig unbeeindruckt. Das war ich damals gar nicht gewesen, auch wenn ich im Nachhinein der Ansicht bin, daß das zu den harmlosen Problemen zählt, mit denen ich es zu tun hatte, weil davon nichts zurückgeblieben ist, was für mich jetzt noch ein Problem ist. Dagegen hatte ich mir, ungefähr seit ich erwachsen bin, gewünscht, selber Kinder bekommen zu können.
Ich hatte ja sieben Jahre Ausbildung im Tempel des Schweigens hinter mir und hatte dabei auch die adeligen Novizen erlebt. Ich hatte zunächst festgestellt, daß sie sich schlecht behandelt fühlten, obwohl niemand sie für meine Begriffe schlecht behandelte. Um zu begreifen, warum das so war, brauchte ich einige Jahre. Dann fiel mir irgendwann die Ähnlichkeit zwischen ihrem Verhalten und dem der Wildfänge bei uns auf. Und dann begriff ich, daß ihr Problem nicht schlechte Behandlung sondern die Umstellung auf ein ganz anderes Umfeld in dem von ihnen zudem noch viel mehr Disziplin gefordert ist, als sie in ihrem bisherigen Leben gewohnt waren. Ich glaube, daß sie in ihrer Kindheit nicht das gelernt haben, was ihnen wirklich gut getan hätte und daß die Art, wie sie verwöhnt worden waren, ihnen letztlich nur geschadet hatte. Jedenfalls merkte man, daß sie durchweg, sobald sie es geschafft hatten, zu begreifen worum es wirklich geht und das auch umzusetzen, wesentlich stärker und selbstbewußter wurden. Ich wußte auch, daß die meisten von ihnen im Nachhinein dankbar für ihre Zeit im Tempel waren, die sie zuerst als so schwierig empfunden hatten.
Bei den Kindern, die zu uns in den Tempel kamen, nachdem sie als Sklaven aufgewachsen waren, sah das ganz anders aus. Sie nahmen normalerweise die Kastration als Selbstverständlichkeit hin und blühten dann auf, wenn sie begriffen, daß wir jeden von ihnen als genau den Menschen schätzten und achteten, der er gerade war. Sie hatten eher die falsche Art von Disziplin als zu wenig Disziplin gelernt und sobald sie begriffen, daß wir sie so weit bringen wollten, daß sie in der Lage sind, aus der untergeordneten Position die Ziele zu erreichen, die sie selbst erreichen wollen, blühten sie auf. Ihr Problem war, daß niemand ihnen je zugestanden hatte, eigene Wünsche zu haben.
Arim hatte ein wenig wie die Adeligen reagiert, die ich im Tempel des Schweigens kennengelernt hatte, aber nicht so ausgeprägt, daß er damit hier angeeckt wäre. In seiner Kindheit war er von Luxus umgeben gewesen und hatte sich erst umstellen müssen, aber er hatte auch gelernt, daß man sich als Sklave anpassen mußte und war daher in der Lage gewesen, sich so zu verhalten, daß die Gleichaltrigen ihn verstanden und akzeptiert haben. Er hatte schnell Freundschaften geschlossen und schien sich in der Gemeinschaft wohlzufühlen, so weit mir das bewußt war. Moses und Arim wechselten zwar immer ein paar Worte, wenn sie sich zufällig begegneten, aber keiner von beiden schien ein besonderes Bedürfnis zu haben, viel Zeit mit dem anderen zu verbringen. Mir gefiel immer noch nicht, daß Arim wie ein Anhängsel von Moses behandelt worden war, den man einfach mit hierherschickt, damit Moses glücklich ist. Erfreulicherweise schien es Arim aber gerade gut zu tun, daß er hier als genauso wertvoll wie sein Ziehbruder betrachtet wurde und er hatte deshalb kein Problem mit der Angelegenheit.
Moses war in seiner Ausbildung sehr viel weiter als sein gleichaltriger Ziehbruder und beide gaben sich eher mit den Leuten ab, die auf ihrer eigenen Ausbildungsstufe waren. Bei Moses hieß das unter Anderem, daß er sich gerne und wenn meine Zeit das erlaubte, auch lange mit mir unterhielt. Diros hatte ihn nach dem, was er geschrieben hatte, als das Kind gesehen, was er selber nicht haben konnte und deshalb viel Sorgfalt darauf verwendet, ihm das zu vermitteln, was ihm im Leben helfen wird und das machte sich jetzt bemerkbar. Moses verhielt sich, als hätte er bereits 12 Jahre Tempelausbildung hinter sich, auch wenn diese Ausbildung inmitten des dekantenten luxuriösen Palastes stattgefunden hatte. Und selbst wenn man das in Betracht zog, war er ein ausgesprochen begabter Schüler.
Moses fragte mich, warum ich alles in Frage stelle und da ich die Frage meinem Lehrer auch schon gestellt hatte, hatte ich glücklicherweise eine gute Antwort parat. Ich erklärte ihm, daß man die Dinge nicht in Frage stellt, weil sie falsch sind, denn bevor man die Frage stellt, weiß man nicht, ob sie richtig oder falsch sind und was sie wirklich bedeutet. Man stellt die Dinge in Frage, um sie besser zu verstehen. Wenn man sie besser verstanden hat, kann es sein, daß man zu dem Schluß kommt, daß das was man ursrünglich dachte stimmt oder aber, daß es falsch ist und etwas ganz anderes richtig ist. In jedem Fall hat man dazugelernt.
Ehrlich gesagt, war ich mir im Augenblick überhaupt nicht mehr sicher, ob ich ihm als Lehrer noch gerecht werden konnte. Ich suchte deshalb die zentrale Wache des Tempelkomplexes auf, zu dem unser Tempel gehörte und bat um ein Gespräch mit deren Leiter. Er stand vier Tempelränge über mir und würde wahrscheinlich das beurteilen können, was ich eben nicht beurteilen kann. Ich sprach mit ihnen ab, daß ich Moses als Schreiber zu ihnen schicken würde damit sich der Höchstrangige unter ihnen einen Eindruck verschaffen konnte.
Fortsetzung:
F2117.
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