Reinkarnationserinnerung - Ein Kriegerleben

FA14.

Liebe und Leid

"Rundon, was machst du hier?" hörte ich im Halbschlaf Scharas Stimme.
Verwirrt öffnete ich die Augen. Ich war immer noch in der Versammlungshalle.
"Ich muß im Sitzen eingeschlafen sein. Ich war so müde." sagte ich.
"Das kann ich mir vorstellen", meinte Schara, "ich glaube nicht, daß ich das durchgehalten hätte. Du sahst so blaß aus. Ich hatte Angst, du würdest umkippen. Woher nimmst du den Mut, diese Aufgabe zu übernehmen?"
"Wer könnte es sonst tun?" fragte ich zurück.
"Ich würde es niemanden anders zutrauen." antwortete sie.
"Eben. Unsere Ängste entbinden uns nicht von unseren Pflichten." sagte ich ruhig.

"Möchtest du mit in mein Bett kommen?" fragte Schara unvermittelt, "vielleicht haben wir nie sonst mehr Gelegenheit dazu."
"Gerne. Aber ich war noch nie bei einem Mädchen." antwortete ich.
"Mein Gott, was hast du in der Zeit gemacht, wenn andere Jungen Mädchen besuchen?" fragte sie erstaunt.
"Ich habe gearbeitet." antwortete ich.
Schara sah mich nachdenklich an und sagte:
"Meine Güte ja, du hattest wer weiß wieviele Erwachsenenaufgaben und als du dir einmal ein wenig Freiheit genommen hast, ist ein Unfall geschehen."
Ich zuckte mit den Schultern und meinte:
"Schicksal."
Schara betrachtete mich lange forschend.
"Komm." forderte sie mich schließlich auf und führte mich in ihr Zimmer.

Schara hatte als sechzehnjährige Mutter viel mehr Erfahrung in diesen Dingen hatte als ich. Sie lehrte mich, was Mann und Frau für schöne Dinge miteinander tun können und ließ mir Zeit herauszufinden, was ich am meisten mochte. Es war eine Art Spiel, mit viel Neugier und Vertrauen und ohne heftige Leidenschaften, wie ich sie in den folgenden Tagen kennenlernen sollte.

Es klopfte.
"Hallo ihr Turteltauben! Steht auf! Zeit für die Versammlung." rief einer der Krieger durch die geschlossene Tür.
"Du gönnst uns das ja nur nicht!" rief Schara ihm zu, "Verschwinde."
Der Krieger lachte:
"Im Ernst, macht euch fertig." und lief davon.

Wir standen auf und begannen unsere ziemlich verkutzelten langen Haare zu entwirren.
"Eigentlich ist es verrückt, das mit offenen Haaren zu machen. Man macht sich viel unnötige Arbeit." meinte ich.
"Ich finde offene Haare schön." entgegnete Schara.
"Stimmt. Aber Arbeit macht es trotzdem."

Als wir Hand in Hand die Versammlungshalle betraten, wurden wir von allen Seiten geneckt. "Paß nur auf, Rundon", meinte ein etwas älterer Krieger, "klein wie du bist, wirst du unten in Schara hineinrutschen."
Ich lachte nur. Der Größenunterschied zwischen Schara und mir war tatsächlich enorm.
Schara runzelte die Stirn und sagte dann:
"Wißt ihr, ich erzähle euch eine Geschichte:
Es gab einmal einen Krieger, den nannten alle den Spötter, denn er machte sich über jedes junge Liebespaar lustig. Nicht nur manchmal wie jeder, sondern er konnte nicht genug davon kriegen. Zuerst ging das einige Jahre gut. Doch irgendwann fiel auf, daß er vor der Zeit aufgehört hatte zu wachsen. Und dann, wenn andere Menschen ihre volle Größe erreichen, begann er zu schrumpfen. Jedes mal, wenn er ein spöttisches Wort fallen ließ, schrumpfte er ein gaanz, gaanz kleines Stück. Man konnte es fast nicht sehen. Doch er wurde, da er täglich spottete und nicht damit aufhören konnte, Tag für Tag, Woche für Woche immer kleiner. Und dennoch ließ er es nicht bleiben. Bald war er nur noch so groß wie ein zehnjähriges Kind, dann wie ein Kind das noch nicht einmal kämpfen lernt und schließlich so klein wie ein Baby. Und dieser Krieger ist dann - er war klein genug - irgendwann tatsächlich in den Bauch seiner Frau zurückgerutscht. Und da er immer noch ständig spottete, ist er inzwischen ganz verschwunden.
Doch normalen Menschen passiert dergleichen nicht. Die sind ja viel zu groß dazu."

Die ganze Runde lachte. Nur ein kleines Kind beschwerte sich, daß das keine richtige Geschichte sei. Es wolle eine RICHTIGE Geschichte.
"Na gut." sagte meine Mutter und erzählte von einem Krieger, der nachdem er das erste mal mit einer Frau geschlafen hatte im Kampf gefallen ist. Sie schloß mit den Worten:
"In dieser Nacht wurde ein Kind gezeugt. Ihr alle kennt es: Toris, unser Anführer. So liegen Freude und Leid dicht beieinander. Wir wissen nicht, ob Rundon mit den Kindern zurückkehren wird. Wenn nicht wünsche ich, daß an diesem Tag ein Kind gezeugt wurde."
Toris, der die ganze Zeit wie schlafend dagelegen hatte, öffnete die Augen und sagte so leise, daß wir sehr still sein mußten, um ihn zu verstehen:
"Du hast etwas vergessen Jadra: Als ich ein Kind war, sah meine Mutter mich immer traurig an. Irgendwann fragte ich sie, ob etwas mit mir falsch sei. "Nein", erklärte sie mir, "mit dir ist alles in Ordnung. Dein Vater sah dir sehr ähnlich. Wenn ich dich sehe, denke ich jedesmal daran, daß er tot ist. Paß auf dich auf Kind, damit ich dich nicht auch noch verliere." Jetzt, wo ich sterben muß, ist meine Mutter schon lange tot. Aber dir will ich dieselben Worte mitgeben. Paß auf dich auf, Rundon, auf dich und jedes Kind, das mit dir zieht. Wir alle habe schon zu viele verloren."
"Ich werde mein Bestes tun." sagte ich und dachte traurig, daß das vielleicht nicht reicht.
"Der Rest ist Schicksal." sagte Toris und schloß die Augen.
Ich wußte, daß diese Worte für mich gedacht waren. Als Trost.

"Ich will auch mit!" rief Jorisch.
Ich hätte weinen mögen. Schara fragte ernst:
"Jorisch, weißt du, worauf du dich einläßt?"
"Wenn Rundon stirbt, dann will ich bei ihm sein!" rief er.
"Rundon wäre es lieber, du wärest in Sicherheit. Aber wenn du wirklich willst, ist es dein Recht."
"Ich will." sagte Jorisch.
Ich gab mich geschlagen und legte meinen Arm um ihn, weil ich seine liebe, lebendige Wärme spüren wollte. Bei dem Gedanken, daß er sterben könnte, bevor er erwachsen ist, hätte ich die ganze Nacht weinen mögen.

"Wir müssen entscheiden, wer sonst noch mitgeht", sagte meine Mutter, "am besten fangen wir bei den Jüngsten an, weil das am schwierigsten ist. Welches fünfjährige Kind schicken wir mit?"
Niemand sagte ein Wort. Der Gedanke war uns allen zu schrecklich. Meine Mutter sah sich hilfesuchend um, doch niemand reagierte darauf. Schließlich sagte sie resigniert:
"Dann zähle ich sie der Reihe nach auf. Teria?"
"Nein. Sie hatte gerade ihre erste Kampfübung. Wenn ihr jemand etwas tun will, kann sie sich nicht verteidigen. Das jüngste Kind sollte mindestens ein halbes Jahr echte Kampfausbildung haben."
"Dann bleibt nur noch Tadja." stellte meine Mutter fest.
Es herrschte Totenstille. Tadja stand auf, sie wirkte totenblaß und hatte ihre Augen angstvoll aufgerissen.
"Tadja", sagte ich liebevoll, "komm in meine Arme."
Kalada war schneeweiß geworden. Tadja war ihre angenommene Tochter, seit sie ein Baby war. Aber auch von ihr kam kein Wort des Protests.
"Wenn Tadja geht, gehe ich mit." meinte Schjerra, Tadjas älteste, lebende Schwester.
"Ich auch." rief Tidaren, ihr Bruder.
Kalada brach in Tränen aus. Meine Mutter nahm sie in die Arme, während Schara zu Schjerra und Tidaren ging.
"Tadja, bist du bereit mitzukommen?" fragte ich.
Ohne ihr Einverständnis, wäre es nicht rechtens.
"Ja. Irgendwer muß mit. Ne?" sagte sie treuherzig.
Ich bekam kein Wort heraus, drückte sie nur schweigend an mich. Ich fühlte, daß auch ich stumm weinte.
"Drei Geschwister." sagte eine Kriegerin leise.
"Willst du sie trennen?" fragte Kalada herausfordernd.
"Nein." antwortete sie und senkte resigniert den Kopf.
"Schjerra, Tidaren. Wißt ihr, worauf ihr euch einlaßt?" fragte ich und wünschte, daß jemand anders diese Aufgabe übernähme.
Aber die einzige, die mir zur Seite stand, war meine Mutter. Auch sie war an ihren Grenzen.
"Ich glaube nicht. Aber ich will dennoch." antwortete Schjerra.
"Meine kleine Schwester will ich nicht alleine lassen, egal wie schlimm es wird." sagte Tidaren.

"Wir sind jetzt vier. Wir brauchen noch einmal so viele", sagte ich, "Welches sechsjährige Kind nehmen wir mit?"
Wieder herrschte Totenstille. Ich weigerte mich, noch etwas zu sagen. Meine Mutter faßte sich zuerst:
"Tadja, wenn es dir schlecht geht, wen möchtest du am liebsten bei dir haben?"
Tadja sah mich an und fragte:
"Soll ich das wirklich sagen?"
"Ja", antwortete ich, "es ist für jeden gleich schlimm, wenn er gehen muß. Aber wenn wir gut zusammenhalten, schaffen wir es vielleicht zurückzukehren."
Lange zögerte sie. Dann sah Tadja sich suchend um, lächelte Ragon fragend zu. Auch er wurde weiß, stand auf und forderte:
"Sag es."
Ragons Mutter fing an zu weinen.
*Geht denn keiner hin?* fragte ich mich.
Meine Mutter schien denselben Gedanken zu haben, aber auch Kalada hatte sich noch nicht ausgeheult. Schließlich stand ihr jetziger Lebensgefährte auf. Die beiden waren kein Liebespaar, sie kümmerten sich nur gemeinsam um die Kinder, seit sie vor zwei Jahren ihre jeweiligen Partner verloren hatten. "Papa, wenn Ragon geht, will ich mit." sagte Torejn, der älteste Sohn ihres Lebensgefährten.
Der Vater sah Torejn wortlos an, nickte schwerfällig. Atmete tief durch und versuchte erfolglos, etwas zu sagen. Seine Lebensgefährtin küßte ihn auf die Stirn.

Plötzlich fiel mir auf, daß die Heilerin in der Tür stand. Freundlich forderte ich sie auf:
"Helia, setz dich zu uns. Was bringst du für Neuigkeiten?"
Sie brach in Tränen aus und bekam lange kein Wort heraus. Als sie sich endlich neben mich setzte, legte ich einen Arm um sie. Schließlich sagte sie:
"Ich soll euch die Namen der Kinder mitteilen, die wir als Geiseln schicken."
"Dann warte. Wir sind nicht fertig. Wir brauchen noch drei Kinder." antwortete ich.

"Tadja ist fünf, Ragon ist sechs, Tidaren und Joresch sind sieben, Schjerra ist neun, Torejn ist zehn, Rundon ist zwölf. Wir brauchen ein achtjähriges Kind." zählte meine Mutter auf. Die achtjährigen Kinder sahen einander an. Plötzlich standen Ritta und Zarej auf:
"Wenn niemand etwas dagegen hat, kommen wir mit." sagte Ritta.
"Warum gerade ihr?" fragte ich, erstaunt, daß sie sich freiwillig meldeten.
"Halenna und Reno sind Bauernkinder. Um sie würden zwei Dörfer trauern. Zita ist Jeras einziges Kind. Und wir wollen zusammenbleiben."
"Das ist vernünftig", bestätigte ich, "habt ihr es euch gut überlegt?"
"Ich glaube ja." antwortete Zarej und Ritta nickte.
"Dann will ich auch mit. Ritta war mir wie eine jüngere Schwester." meldete sich Raun.
Er hatte keine lebenden Angehörigen mehr.

"Wie könnt ihr so etwas nur so ruhig und vernünftig besprechen." fragte die Heilerin entsetzt.
"Du hast die Scenen nicht miterlebt." entgegnete ich knapp.
Helia, die Heilerin sah mich fragend an.
"Es war schrecklich, Helia. Es ist schrecklich. Aber wir können es nicht ändern. Nun sag, was du zu sagen hast."
Helia stand auf und trug eine Liste von zehn Namen vor. Kinder, die sie kannte, seit sie der Mutter bei der Geburt beigestanden hatte. Die meisten hatte ich noch nie gehört und doch werde ich keinen von ihnen vergessen:
Koresch, Elara, Farnesch, Tibira, Sanate, Leon, Illit, Tonir, Zunkon und Tillit.

"Helia, richte Koresch aus, daß wir uns ab jetzt jeden Morgen im leerstehenden Haus auf dem Weg zum Bauerndorf hinunter treffen. Mit allen Kindern, die mitgehen. Ich will, daß wir uns kennenlernen und die Bauernkinder ein wenig kämpfen lernen, bevor wir gehen. Mittagessen gibt es im Kriegerdorf. Den Nachmittag können alle mit ihren Familien verbringen. Vielleicht kehren wir nicht zurück." befahl ich.
Die Heilerin nickte.

Es gab fünf leere Häuser. Bei diesem Gedanken wurde mir zum ersten mal klar, daß das Kriegerdorf einmal fast doppelt so viele Krieger gehabt hatte. In jedem Haus hatten mehr Erwachsene gelebt. Die jungen Erwachsenen hatten oft erst mit achtzehn Jahren geheiratet. Wenn sich nichts änderte, würde das Kriegerdorf aussterben. Und ich war dabei, mit zehn Kriegerkindern das Dorf zu verlassen.

Kersti


FA15. Kersti: Fortsetzung: Aufbruch
FA13. Kersti: Voriges: Eine schwere Entscheidung
FAI. Kersti: Inhaltsübersicht: Ein Kriegerleben
FA1. Kersti: Zum Anfang: Mein erster Kampf
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
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V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
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