Reinkarnationserinnerung - Ein Kriegerleben

FA18.

Elara

Eine weitere Tagesfahrt. Die Wagen hielten abends am neuen Lagerplatz. Wir stiegen aus und ich versorgte das Pferd, während die anderen arbeiten gingen. Ich ließ es frei laufen, damit es sich selbst das saftigste Gras suchen konnte. Als Kriegerpferd würde es auf Zuruf kommen. Dann wurde ich zur abendlichen Kampfübung abgeholt und jener einfache Soldat bewachte wieder einmal unseren Wagen. Ich war froh, daß er mir half, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Ich hätte sonst keine Mögichkeit gehabt, unsere Sachen zu schützen. Die Disziplin des Heeres war so schlecht, daß es sonst mit Sicherheit zu Diebstählen gekommen wäre.

Es wurde mit Holzschwertern gekämpft, wie das spielende Kinder tun. Sie stellten keine Kampfwächter auf, die den Kampf überwachen und notfalls abbrechen könnten. Ich übte gegen mehrere Gegner. Der Gardehauptmann wollte herausfinden, wo die Grenzen meiner kämpferischen Fähigkeiten lagen. Wir übten nur wenige Stunden und nicht so hart, wie ich es gewohnt war. Aber ich wußte, daß ich aus ihren unbekannten Kampftechniken viel lernen würde.

Als wir mit den Übungen gerade fertig waren, kam Schjerra:
"Rundon, komm schnell, Elara ist etwas Schlimmes passiert!"
Ich rannte zum Wagen. Der Gardehauptmann folgte mir. Elara lag wimmernd neben der Feuerstelle. Ihre Kleider waren zerrissen und blutig.
"Hol den Arzt!" befahl ich.
"Koresch ist schon unterwegs." sagte jemand.

Ich stellte fest, daß das Blut aus der Scheide kam. Bei Kampfverletzungen hätte ich gewußt, wie sie zu versorgen wären, aber so etwas? Wie kommt man zu so einer Verletzung? Ich streichelte ihr Haar und fragte:
"Was ist geschehen Elara?"
Was sie erzählte hätte ich nicht glauben können, ohne Elara als lebenden Beweis. Ein Mann hatte sie zu Boden geschlagen und sie dann gezwungen, mit ihm zu schlafen. Dabei hatte er so viel Gewalt angewandt, daß er sie innerlich zerrissen hatte. Wie kann ein Mensch auf eine so abartige Idee kommen? Ich hielt Elaras Hand, versuchte sie zu trösten und fühlte mich hilflos. Der Arzt kam, kniete sich neben mich und untersuchte Elara. Nach Minuten hob er langsam den Kopf.
"Kannst du etwas tun?" fragte ich leise.
Er schüttelte den Kopf. Sein Gesichtsausdruck wurde düster von ohnmächtigem Zorn.
Ich nickte. Ich hatte damit gerechnet.
"Danke."
Dann wandte ich mich Elara zu, um ihr beizustehen.

"Ne, Elara wird doch gesund?" fragte ein kleines Bauernmädchen.
"Nein. Sie stirbt." antwortete ich hart.
Wir Kriegerkinder hatten alle genug Sterbende gesehen, um zu wissen, was los war. Das Mädchen sah mich mit fassungslosen großen Augen an.
"Bleib hier. Sonst wirst du nie mehr mit Elara reden können." sagte ich sanfter.
Das letzte Gespräch mit einem Sterbenden ist etwas besonderes. Man redet über Träume, die nie mehr wahr werden werden und vergangene Zeiten und fühlt sich in diesen Stunden des Abschieds einander so nah, wie sonst selten. Elara trug mir Grüße an ihre Eltern auf.
Vor einem Kampf weiß man nicht, ob man sterben wird. Ich wünschte mir, wenn ich einmal sterbe, daß ich Zeit habe, mich von meinen Lieben zu verabschieden. Die Stunden des Schmerzes, die eine solche Verletzung mit sich bringt, würde ich dafür in Kauf nehmen.

Es war gerade dunkel geworden, als Elara schließlich starb. Ein letztes mal strich dem toten Mädchen übers Haar, richtete mich auf und sagte zum Hauptmann der Garde:
"Ich muß mit dem Führer reden."
"Du wirst keinen Erfolg haben, Rundon." antwortete der.
"Ich will es zumindest versuchen."
"Er wird dich auspeitschen lassen."
Ich durfte es nicht auf sich beruhen lassen, sonst konnten unsere Mädchen sich ihres Lebens nicht mehr sicher sein. Ich drehte mich zum Zelt des Führers um und fragte:
"Kommst du?"

Zögernd folgte er mir zum Eingang des Zeltes, wo ich zu den Wachen sagte, daß ich den Anführer sprechen wolle. Der Gardehauptmann hielt sich im Hintergrund. Die Wachen weigerten sich, mich einzulassen, also redete ich auf sie ein, bis der Führer persönlich herauskam und fragte, was los sei. Ich sagte ihm, daß ich mit ihm reden wolle. Der Führer warf mir einen irritierten Blick zu, sah den Gardehauptmann kurz an und sagte zu uns beiden:
"Dann kommt herein."

Sobald er mich zum Sprechen aufforderte, erzählte ich, was geschehen war und sagte ihm, daß es seine Verantwortung sei, den Schuldigen zu bestrafen. Doch er entgegnete:
"Dazu sehe ich keinen Grund. Auf ein Kind mehr oder weniger kommt es nicht an. Sollen die Männer doch ihre Freude haben."
Für einen Augenblick war ich sprachlos vor Zorn. Als ich mich wieder gefangen hatte, sagte ich beherrscht:
"Diese Ansicht kann ich nicht teilen. Disziplin in solchen Dingen hat einen direkten Einfluß auf die kämpferischen Fähigkeiten eines Heeres. Nicht umsonst wird dergleichen in der Garde nicht geduldet, wie ich beobachten konnte."
"Wir sind das größte Heer der Welt!" fuhr der Führer auf.
"Das stimmt. Aber eure Soldaten sind bestenfalls mittelmäßige Kämpfer. Sonst hätten wir eure kleine Streitmacht nicht so mühelos besiegen können." entgegnete ich.
Der Führer war empört. Er befahl dem Gardehauptmann:
"Der Bursche gehört zur Garde - also ist es Deine Aufgabe, ihn für seine Unverschämtheiten auszupeitschen."
Vor Wut wurde mir schwarz vor Augen. Ich atmete tief durch, um nicht auf den Führer loszugehen. Es war nichts zu machen, also drehte ich mich zu meinem Hauptmann um und fragte still: "Wohin?"
Der Gardehauptmann sah mich an, als wollte er sagen:
"Das habe ich dir doch gleich gesagt." und drehte sich um.
In tiefes Nachdenken versunken, folgte ich ihm. Es gab keine Lösung.

Wir betraten sein Zelt.
"Ich brauche deinen Rat." wandte ich mich an den Gardehauptmann.
"Ich kann nichts machen. Ich muß dich bestrafen." versuchte er mir klarzumachen.
"Das ist unwesentlich." winkte ich ab.
"Ich kann wirklich nichts tun - sieh mal..." setzte er ein zweites mal an.
"Mir ist klar, daß du nicht den Befehl verweigern kannst. Ich habe wichtigere Probleme, als daß mich jemand auspeitschen lassen will. Ich muß wegen Elara etwas tun. Sonst nehmen die Soldaten die Entscheidung ihres Führers als Aufforderung, nach und nach jedes der Mädchen zu vergewaltigen. Tötete ich Elaras Mörder, gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder fänden sie nicht heraus, wer es war - dann war die Strafe wirkungslos. Oder sie suchten die Schuld bei mir - dann würde ich hingerichtet und könnte die Kinder auch nicht mehr schützen. Ich habe noch mehr Bauernkinder dabei, die sich nicht wehren können."
"Schjerra könnte sich verteidigen?" fragte er mich.
"Ja. Wer das bei ihr versucht hätte, wäre jetzt tot." bestätigte ich.
"Selbst ich?"
"Vermutlich. Du bist gut genug, um sie besiegen zu können, wenn sie Pech hat."

Lange saß er mir nachdenklich schweigend gegenüber. Schließlich erklärte er:
"Schjerra ist wahrscheinlich die nächste, bei der es jemand versucht. Sie ist die älteste. Keines der anderen Mädchen sollte alleine im Lager herumlaufen. Wenn ein kleines Mädchen wie Schjerra einen erwachsenen Mann mit dem Schwert besiegt, halten die Krieger das für Zauberei. Du solltest androhen, daß jeder, der von heute ab einem der Mädchen etwas tut, sein blaues Wunder erleben wird."
Ich fand den Plan nicht perfekt, aber er hatte mehr Aussicht auf Erfolg, als alles, was mir eingefallen war.

Die Strafe war auszuhalten. Meine Drohung nachher wurde mit Gelächter quittiert.

Wenige Tage später rief mich ein Mitglied der Garde. Schjerra stand mit verschrammten schmutzigen Gesicht, wütend und aufrecht dem Heerführer gegenüber. Sie war gefesselt und wurde von einem einfachen Soldaten an den Haaren festgehalten. Zwei andere standen daneben und sagten, daß Schjerra einen ihrer Kameraden mit dem Schwert angegriffen und getötet hätte.
"Stimmt das?" frage der Heerführer.
"Ja. Der hat mich..."
Der Heerführer zog sein Schwert, um ihr den Kopf abzuschlagen.

Ich schlug die Waffe zur Seite und befahl:
"Halt! Wenn Schjerra einen Menschen erschlagen hat, hatte sie dafür einen sehr guten Grund. Sie ist weder unbeherrscht noch dumm. Schjerra, erzähl mir die ganze Geschichte."
"Der Mann hat mich schon mehrmals an Stellen angefaßt, wo ich das nicht wollte, und ich habe ihm das auch gesagt. Daraufhin meinte er, daß ich mit ihm schlafen müßte, wenn er das wolle. Ich sagte ihm, daß ich eine Kriegerin bin und mich gegen solche lebensgefährlichen Übergriffe zu verteidigen weiß. Er zog sein Schwert und griff mich an. Ich bin nicht so gut wie Rundon, der selbst den Heerführer mehrfach entwaffnen konnte, ohne ihn zu verletzen. Wenn ich den Mann nicht getötet hätte, wäre ich jetzt tot."
Der Heerführer sagte:
"Dafür bekommt sie hundert Peischenhiebe."
"Nein. Das sehe ich mir nicht mit an. Das würde sie nicht überleben." widersprach ich.
"Oh, ihr könnt euch die Strafe auch teilen. Dann bekommt jeder fünfzig." höhnte der Heerführer.
"Das könnt ihr von mir aus tun." sagte ich.
Fünfzig Peitschenhiebe kann man überleben.

Daraufhin wurde das ganze Heer zusammengerufen, damit sie der Bestrafung zuschauen konnten. Ich bekam meinen Anteil zuerst und sah danach schweigend zu wie Schjerra ausgepeitscht wurde. Als sie fertig waren, gingen die Männer und ließen Schjerra einfach hängen.
Ich befreite sie und sagte:
"Im Grunde habe ich gehofft, daß du die nächste sein würdest, bei der ein Mann versucht, dasselbe zu tun, wie bei Elara. Du hast genau das getan, was ich hoffte. Bist du mir böse dafür?"
"Nein. Es gab keine andere Möglichkeit. Ich konnte mich wenigstens verteidigen. Die anderen Mädchen hätten es wahrscheinlich nicht gekonnt." antwortete sie ruhig.
Schjerras Gesicht war naß von Tränen. Arm in Arm kehrten wir zum Wagen zurück.

Warum muß es ein so ekelhaftes Gefühl sein, wenn ein Plan aufgeht?

Kersti


FA19. Kersti: Fortsetzung: Heimkehr
FA17. Kersti: Voriges: Andere Geiseln
FAI. Kersti: Inhaltsübersicht: Ein Kriegerleben
FA1. Kersti: Zum Anfang: Mein erster Kampf
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
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