Reinkarnationserinnerung - Helden leiden länger

FB3.

Du sollst einen Posten bekommen, der deinen Fähigkeiten entspricht

Ich stand hinter dem König und hatte ihm leicht eine Hand auf die Schulter gelegt, als er von Schluchzern unterbrochen stockend die Ereignisse des Tages erzählte. Sein Bruder hörte schweigend zu, nickte von Zeit zu Zeit und Tränen rannen seine Wangen hinunter. Besonders als Geron das letzte Gespräch mit seiner Schwester Wort für Wort wiedergab. Von Zeit zu Zeit warf er mir merkwürdig eindringliche Blicke zu.

Schließlich erschien ein junger Mönch in der Tür, in der Hand ein Tablett mit drei Tellern Suppe. Der Abt winkte ihn herein und drückte seinem Bruder einen Teller in die Hand:
"Iß."
"Ich habe keinen Hunger." widersprach der junge König.
"Du hast keinen Appetit, weil du mit deinen Gedanken bei den vielen Toten bist. Aber du hast den ganzen Tag nichts gegessen. Wenn du es probierst, wirst du merken, daß du Hunger hast." sagte der Abt mit ruhiger Autorität.
Als nächstes drückte er mir einen Teller in die Hand. Ich wollte widersprechen, doch als ich seine Miene sah, sparte ich mir jedes weitere Wort und versuchte die Suppe herunterzuwürgen. Auch er nahm einen Teller und ich sah, daß er sich zwingen mußte, zu essen. Wahrscheinlich hatte er wenigstens zu Mittag gegessen und brauchte die Malzeit deshalb nicht wirklich. Aber er mußte ja mit gutem Beispiel vorangehen. Bei dem Gedanken mußte ich grinsen. Der Abt sah es und grinste zurück. Und er behielt recht. Ich hatte wirklich Hunger und der Appetit kam beim Essen. Dem Prinzen schien es genauso zu gehen. Nein, jetzt war er König - ob ihm das schon so ganz klar war? Wahrscheinlich nicht. Er hatte immer geglaubt daß sein jetzt toter Bruder einmal der König sein würde. Und kaum war der Teller leer, schlief er ein. Ich sah auf - in das Gesicht des Abtes und wir beide lächelten und legten ihn ins das Bett des Abtes.

"Können wir einmal unter vier Augen miteinander sprechen?" fragte der Abt mich.
Ich sah ihn erstaunt an und nickte. Ich hatte keine Ahnung, warum er ausgerechnet mit mir sprechen wollen könnte.
"Gut dann komm mit." sagte er und führte mich aus dem Häuschen.

Die meisten Gardisten schliefen schon, nur zwei hielten Wache. Vernünftig.
"Garid, du gehst zum König und hältst am Bett Wache. Er soll diese Nacht keine fünf Minuten allein sein. Er hat heute fast seine gesamte Familie verloren." befahl ich.
Er nickte.
"Ich könnte Mönche dazu einteilen." meinte der Abt und betrachtete mitleidig die müden Mienen der Gardisten.
"Nein. Es müssen Männer sein, die er kennt und denen er vertraut. Mit den Gardisten hat er kämpfen gelernt." antwortete ich.
Er nickte.

Dann führte er mich in eine leere Mönchszelle und sevierte mir formvollendet Tee, während ich seine nachdenklichen Blicke spürte und mich fragte, was er ausgerechnet von mir wollen könnte.
"Wie kommt mein Bruder zu einem so jungen Befehlshaber?" fragte er schließlich.
Ich lachte:
"Befehlshaber? Ich bin kein Befehlshaber. Ich bin nur ein einfacher Gardist, der es sich angemaßt hat, Befehle zu erteilen."
"Es müssen gute Befehle gewesen sein. Die Männer gehorchen dir."
"Ach das. Klar. In ruhigen Zeiten reißen sich alle drum, Befehle geben zu dürfen. Wenn alles drunter und drüber geht, ist jeder froh, wenn jemand anders die Befehle gibt." sagte ich.
Er sah mich minutenlang ganz merkwürdig an, dann sagte er ruhig:
"Ja. So ist es wohl. Aber du bist hingegangen und hast die Befehle gegeben, die notwendig waren."
"Was sollte ich tun? Es war ja niemand anders da, der das tun konnte." entgegnete ich.
"Richtig." antwortete er und musterte mich wieder so merkwürdig intensiv.

Dann hinterfragte er der Reihe nach jede meiner Entscheidungen, fragte, warum ich es gemacht hatte, ob nicht etwas Anderes besser gewesen wäre. Ich begründete, was ich getan hatte, warum ich es genau so und nicht anders hatte machen müssen. Und das was er hörte, schien ihn noch nachdenklicher zu machen. Dann schwieg er wieder lange. Als ich schon dachte, daß er überhaupt nichts mehr sagen würde, sagte er schließlich:
"Ich werde mit meinem Bruder reden. Du solltest einen Posten bekommen, der deinen Fähigkeiten entspricht."
Ich warf ihm einen absolut erstaunten Blick zu und kehrte dann zu meinen Männern zurück, schaute nach, ob alles in Ordnung war. Es war. Kariv hatte alles gut eingeteilt. Und zu Hause - das wußte ich - hatte Gared für Ordnung gesorgt. Ich sagte den Männern, daß sie mich mit für die letzte Wachen einteilen sollten und legte mich zwischen ihnen schlafen.

Sie gehorchten nicht, sondern ließen mich auf Karivs Befehl hin ausschlafen. Als ich am nächsten Morgen merkte, wie zerschlagen ich mich immer noch fühlte, schwieg ich dazu. Ich hatte tatsächlich mindestens zwei Wachen mit reden verbracht, die die anderen schlafen konnten. Kariv hatte recht gehabt. Am nächsten Morgen redete der Abt noch über eine Stunde mit seinem jüngeren Bruder, dem König. Dann ritten wir zurück zum Hof.

Kersti


FB4. Kersti: Fortsetzung: Ich bin davon ausgegangen, daß einige tot sein würden
FB2. Kersti: Voriges: Der mißratene Sohn
FBI. Kersti: Inhaltsübersicht: Helden leiden länger
FB1. Kersti: Zum Anfang: Das Attentat
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
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