Reinkarnationserinnerung - Helden leiden länger

FB5.

Ich will, daß du mein Gardehauptmann bist

Am Abend ließ der junge König mich zu sich rufen. Ich sah ihn prüfend an. Was ich sah beruhigte mich. Sein Gesicht war nicht mehr so unnatürlich ruhig und blaß. Zwar ernster als ich ihn kannte, aber eher wie bei einem Erwachsenen. Nicht als müßte er zwanghaft seine Gefühle unter Kontrolle halten.

"Ich wollte dir sagen, daß ich dich gleich offiziell zum neuen Gardehauptmann ernennen werde. Nur damit du nicht aus allen Wolken fällst." erklärte er.
"Aber warum mich? Warum nicht Gared? Ich bin doch viel zu jung und er hat ein halbes Leben darauf hingearbeitet." protestierte ich.
"Ich will dich und keinen Anderen."
"Aber warum?" fragte ich absolut verwirrt und hilflos.
Zum Gardehauptman ernannt wurden alte erfahrene Männer, die wußten was sie taten, nicht so junge unerfahrene Leute wie ich. Er mußte verrückt geworden sein.
"Korith, ich will daß du mein Gardehauptmann bist." sagte er wieder.

"Wer hat dir das gesagt?" fragte ich.
"Mein Bruder. Heute morgen."
"Worüber habt ihr da eigentlich gesprochen?" fragte ich.
"Mein Bruder hat mir haarklein alles erzählt, an was ich als König heute so denken muß. Ich fürchte nur, ich habe fast alles wieder vergessen."
Ich schmunzelte:
"Dann solltest du ihn vielleicht morgen früh wieder danach fragen."
"Mach ich. Er kommt morgen zu Besuch und schaut nach dem Rechten."
"Ich bin froh, daß du so einen Bruder hast." sagte ich aus vollem Herzen.
Da brach er in Tränen aus. Ich nahm ihn in die Arme und fragte mich warum. Ja - klar, ich hatte von seinem Bruder geredet. Und der andere Bruder, der der ihm viel näher gestanden hatte, war tot. Klar, daß er weinte. Aber er würde lernen müssen, damit zu leben. Tote zum Leben erwecken gehörte nicht zu meinen Fähigkeiten.

Sanft strich ich ihm übers Haar. In dem Augenblick war ich froh um all die Ausflüge, die wir als Kinder gemeinsam so unternommen hatten. Wenn sein Vater das erfahren hätte, hätte er es mit Sicherheit verboten. Ich hätte wahrscheinlich eine schreckliche Tracht Prügel bekommen und wäre vielleicht sogar aus der Garde entlassen worden. Das hatte wir beide gewußt. Und jetzt, wo er tot war, begriff ich auch warum. Wahrscheinlich war er sich viel bewußter gewesen als wir Kinder, wie gefährlich das Leben eines Königs ist. Froh war ich darum, weil es zwischen uns eine Beziehung geschaffen hatte, die tief genug war, um ihn vielleicht davor zu bewahren, an dieser grausamen Realität völlig zu verzweifeln.

"Was hat dein Bruder gesagt, warum du mich zum Gardehauptmann machen sollst?"
"Er hat gesagt - er hat erzählt wie verzweifelt er war, als er als kleiner Junge ins Kloster geschickt worden war, und das Gefühl hatte ein Versager zu sein. Und daß er da in seiner Verzweiflung einige Sachen gemacht hat, die sehr gefährlich waren. Aber er war nur ein Kind und der Abt hat ihm dann eine Tracht Prügel gegeben und ihn ins Bett gesteckt. Und dann hat er mich gefragt, ob ich nicht verzweifelt genug bin, um ebenso verrückte Dinge zu machen. Und ich habe zugegeben, daß er recht hat. Er hat gefragt, ob Gared mir gehorchen würde, wenn ich ihm verbieten würde, mich daran zu hindern. Und ich habe ja gesagt. Er hat gefragt ob du mir gehorchen würdest - und ich habe nein gesagt. Und er meinte, deshalb soll ich dich zum Hauptmann machen, damit du auch die Position hast, die dir erlaubt nein zu sagen."
Ich sah ihn nachdenklich an. Ja, das gab Sinn. Dieser Abt war ein sehr kluger Mann.

"Aber ich bin wirklich sehr jung und sehr unerfahren für diesen Posten." sagte ich leise.
"Du jung? Ja. Stimmt. Aber ich bin noch jünger und ich bin König." sagte er.
Und sah in diesem Augenblick wirklich so jung und unerfahren aus, wie er war. Ich zuckte mit den Schultern.
"Gut. Ich nehme den Posten an. Hast du eigentlich Gared schon davon erzählt?"
"Nein. Verdammt. Ich wußte doch, daß ich die Hälfte vergessen habe! Außerdem sollte ich noch nach den Kranken sehen."
Er sah richtig gehetzt aus. Wahrscheinlich wäre so viel zu tun gewesen, daß er es in der Zeit gar nicht alles hätte schaffen können.

"Das habe ich schon gemacht. Sie leben alle noch. Und der Arzt meint, er bekommt sie auch alle durch."
"Im Ernst?"
Er sah genauso ungläubig aus wie ich mich gefühlt hatte, als der Arzt das gesagt hatte. Ich nickte:
"Und ich glaube ihm das. Ich habe ihn auf seiner Runde begleitet."
"Dann ist er ein verdammt guter Arzt. Bei Nori wären jetzt schon die Hälfte tot." sagte er.
"Ja. Ein echter Glücksgriff. Ich hätte nie gedacht, daß er so gut ist." bestätigte ich.
Irgendeiner der Gardisten hatte vor Jahren mal in meiner Gegenwart gesagt, daß dieser Arzt sehr gut sein solle. Und das war der erste Arzt gewesen, der mir in dem Chaos des Attentats eingefallen war. Manchmal hat man wirklich Glück.

Kersti


FB6. Kersti: Fortsetzung: Ich weiß, ich bin nicht fair
FB4. Kersti: Voriges: Ich bin davon ausgegangen, daß einige tot sein würden
FBI. Kersti: Inhaltsübersicht: Helden leiden länger
FB1. Kersti: Zum Anfang: Das Attentat
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
Sonstiges
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