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Ich wünschte, ich wäre nie hierhergekommen...

Ich ging wieder ins Haus. Es war einfach viel zu groß. Ein riesiges, leeres Haus mit großen schönen Fenstern aus verschiedenfarbigen Gläsern. Groß genug, daß ein junger Drache durch das Haupttor treten kann. Die älteren Drachenreiter hatten uns, als sie das gesehen hatten, kopfschüttelnd Baumaterial bestellt und hinten drei kleine Kammern vom großen Raum abgeteilt, in denen wir schliefen und unsere persönlichen Sachen unterbrachten. Den großen Raum dagegen benutzten die jungen Drachen, um zu spielen, sie wären Menschen.

Dania kniete am Boden und weinte bitterlich. Ich ging zu ihr hin und nahm sie in die Arme. Draußen im Sand lag ein Drachenei. Sie und die beiden anderen jungen Mädchen hier im Haus waren hierhergeholt worden, um beim Schlüpfen des jungen Drachen dabeizusein, damit das Drachenkind eine von ihnen zu seinem Reiter erwählen konnte. Jetzt war sie am Ende mit ihren Nerven. Ich streichelte sie und wartete, daß sie sich wieder faßte. Sie klammerte sich an mich und weinte lange.
"Ich wünschte ich wäre nie hierhergekommen!" schluchzte sie.
Ich schwieg und streichelte sie nur ruhig weiter. Was sollte ich dazu sagen? Es war ganz anders als damals, als ich geholt worden war, um bei der Geburt meines Drachen dabei zu sein. Damals hatte die ganze Zeit eine feierliche Stimmung geherrscht. Ständig wurden wir Jungen von Drachenreitern mit ihren Drachen besucht und unterstützt. Jeden Tag gab es Dinge zu essen, von denen ich vorher kaum zu träumen gewagt hatte.

Ganz abgesehen davon, daß ich zum ersten mal in meinem Leben nicht jeden Tag eine Tracht Prügel bekam. Ich habe mich schon oft gefragt, woher mein Vater diese Gewalttätigkeit hatte, unter der die gesamte Familie leiden mußte.

Drachen waren sehr gutmütig. Die meiste Zeit des Tages lagen sie in der Sonne und genossen ihre Wärme, aus denen das Chlorophyll in ihrem Blut Energie gewann. Sie leben zum überwiegenden Teil von Sonnenlicht. Der Rest ihrer Ernährung ist vegetarisch. Und die Vorstellung daß man Tiere oder gar Menschen töten könnte, ist ihrer Natur gänzlich fremd.

Erst wenn sie als Erwachsene mit der bitteren Realität des Krieges bekannt gemacht werden, lernen sie Zorn kennen. So jedenfalls ist es normalerweise. Wir waren gerade kurz davor, die Realität des Krieges erleben zu müssen. Und das ist etwas völlig anderes. Und wegen dieser nahezu aussichtslosen Situation, in der wir steckten, war die Stimmung seit Tagen bis aufs äußerste gereizt. Die Drachen hatten eine Angst, die nahezu Panik war und keine Möglichkeit irgendetwas zu ihrer Verteidigung zu tun.

Für die drei Mädchen, die den zutiefst friedlichen Geist der Drachen nicht kannten, war die ständige Unausgeglichenheit dieser riesigen Wesen furchterregend. So hörte ich Dania die ganze Nacht zu, während sie sich ihren Kummer und ihre Angst von der Seele redete.

Beim ersten Licht des neuen Tages öffnete sich die große Tür und Khaer schaute herein. Dania klammerte sich weinend an mich. Ich fragte Khaer, was er wolle.
"Dania muß kommen. Mein Schwesterchen will schlüpfen." sagte er.
Dania schaute fassungslos auf. Noch nie hatte sie einen Drachen laut reden hören. Ich faßte sie bei der Hand und sagte:
"Komm. Es ist Zeit."
Sie erstarrte.
Leise redete ich auf sie ein, bis sie sich genug beruhigt hatte, um auf die Drachenhand zu steigen. Dann stiegen wir auf die Hand, Khaer hob uns hoch, setzte uns auf seinen Rücken, wir schnallten uns an und er flog über die Mauern in den Bruthof. Zu meinem absoluten Erstaunen war der Bruthof leer. Sonst saßen beim Schlüpfen eines jungen Drachen immer tausende an Drachen um das Ei herum. Diesmal waren selbst die Eltern nicht da.

Wir schnallten uns ab und stiegen auf Khaers bereitgehaltene Hand. Ich sah, daß das Ei schon hin- und herwackelte. Der junge Drache mußte kurz davor sein, die Schale zu öffnen. Es war mir unbegreiflich, wieso niemand anders da war. Ich hatte den Verdacht, daß Khaer mir etwas ganz Wichtiges nicht sagte. Jetzt war zumindest nicht die Zeit zu fragen. Ich erklärte Dania, wie sie sich verhalten mußte, wenn der Drache geschlüpft war und auf Khaers Befehl hin auch noch, wie sie sich verhalten solle, wenn die Angreifer jetzt kämen. Danach ließ ich sie absteigen. Khaer hob mich wieder auf seinen Nacken und befahl mir, mich anzuschnallen.

Wenige Sekunden saß Khaer noch ruhig da und beobachtete, wie die Schale des Eis aufbrach und das Mädchen mit einem seeligen Gesichtsausdruck auf den jungen Drachen zutrat, der noch nicht größer war als ein menschliches Kleinkind. Dann flog Khaer los und verließ im Tiefflug die Drachenstadt. Als er das tat, erkannte ich auch warum. Menschliche Kampfflieger flogen über der Stadt hin und her. Es war reinstes Glück gewesen, daß sie uns beim Schlüpfen des Drachen nicht erwischt hatten.

Kersti


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