FC20.

Das Ohr und der Arm...

Bei der nächsten Operation wurde mir das linke Ohr samt Innenohr herausoperiert.

Für die Operation danach wurde ich dann nicht in den im Zoo liegenden Operationsraum gerufen sondern es hieß:
"Khaerith in die Garage, Khaerith in die Garage."

Ich war gerade in eine Unterhaltung mit der Psychologin vertieft und fragte sie, ob sie wüßte, wohin ich transportiert werden solle. Sie wußte es nicht und begleitete mich zur Garage - was Daeraith nicht gekonnt hätte, da sie nicht in die Garage durfte.

Dort wartete ein Transporter auf mich. Ich fragte, wo es hingehen solle und erhielt zur Antwort:
"In die Zentralklinik."
Ich dachte, daß das dann wohl mein Ende sein würde, verabschiedete mich von der Psychologin und bat sie, die anderen von mir zu grüßen. Innerlich fühlte ich mich wie erstarrt, auch wenn man mir das gewiß nicht ansah. Die Psychologin umarmte mich und wollte mich nicht wieder loslassen, bis schließlich die Transportbegleiter eingriffen, mich fesselten und mir befahlen in den Trasporter zu steigen. Ich gehorchte und kurz darauf ging es los.

Außer mir wurde noch ein zweiter Mann aus dem Zoo abgeholt. Ich hätte mich gerne mit ihm unterhalten, um mich von meinen Mutmaßungen über die Zukunft abzulenken, die höchstwahrscheinlich häßlicher waren, als es die Realität sein würde. Doch er hatte sich zusammengekauert wie ein Fötus im Mutterleib und wimmerte leise vor sich hin. Ich sah keine frischen äußeren Verletzungen - eine Hand hatten sie ihm auch geraubt, aber das mußte schon länger her sein, also nahm ich an, daß es lediglich Angst war.

Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich zurück und dachte nach. Ich spielte alle Möglichkeiten durch, was ich tun könnte. Das Ergebnis dieser Überlegungen war wie immer: nichts.

Schließlich öffnete sich die Tür, wir wurden in einen Duschraum geführt, wo wir uns ausziehen und waschen mußten, um keine Keime in den Operationsraum zu tragen. Ich gehorchte sofort. Waschen ist nichts Schlechtes - und an meinem zusammengekauerten Begleiter führten sie mir vor, wie man Leute mit Gewalt duscht, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Erst mit dem Foltergerät bewegungsunfähig machen, dann aufrecht an ein Gestell hängen und duschen.

Dann schließlich mußte ich in den Operationsraum, mich dort auf die Operationsliege legen. Es dürfte wohl niemandem aufgefallen sein, wie angespannt ich innerlich war, weil ich mich in solchen Situationen immer wie im Reflex entspanne. Auch dieser vollkommen ruhige Tonfall, in dem ich fragte, was sie mit mir tun würden, dürfte keiner als das Zeichen von Anspannung und Angst erkannt haben, das er bei mir ist. Weinen kann ich nur, wenn ich mich relativ sicher und geborgen fühle. In jenem Leben hatte ich nur in der glücklichen Zeit bei den Drachen manchmal geweint, oder wenn ich völlig allein war. Nie in Gegenwart anderer Menschen.

Dann wurde wieder der Lähmstrahler angestellt und sie begannen nach und nach die Muskeln von den Rippen zu lösen, die nötig sind, um den linken Arm zu bewegen. Danach kugelten sie den Arm aus dem Gelenk, und schnitten als letztes Nerven und Schlagadern durch. Schließlich reichten sie den Arm durch ein Fenster in das Nachbarzimmer, wo er einem anderen Menschen angeflickt wurde. Sie zogen Haut über die offene Wunde und heilten sie dort an. Dann stellten sie den Lähmstrahler aus.

Es dauerte ein Weilchen, bis ich den Schmerz weit genug aus meinem Bewußtsein zurückgedrängt hatte, um meine Umgebung wieder wahrnehmen zu können. Dann setzte ich mich vorsichtig auf, zog die Beine an und legte meinen Kopf auf die Knie. Es tat so weh! Dann spürte ich, wie jemand sanft eine Hand auf meine Schulter legte. Ich schaute auf. Es war eine Frau.
"Es tut mir leid, was wir dir angetan haben, aber jetzt kannst du wieder nach Hause gehen. Das wars für heute. Dein Professor will dich noch haben."
Zuerst verstand ich einfach nicht, was sie sagte. Dann glaubte ich es nicht. Niemand, der zum Zentralkrankenhaus geschickt worden war, war zurückgekommen. Und schließlich kam ich zu dem Ergebnis, daß ich mir gar nicht so sicher war, ob ich nicht vielleicht lieber heute gestorben wäre, als so scheibchenweise auseinandergeschnitten zu werden. Alle paar Tage ein weiteres Teil.

Ihre Freundlichkeit, die Erschöpfung wegen der durchgestandenen und immer noch vorhandenen Schmerzen und daß die Anspannung plötzlich weg war, führten dazu, daß ich in Tränen ausbrach. Da rüttelte sie mich grob, befahl mir aufzustehen und führte mich zurück in den Transporter. Auf dem Weg redete sie tröstend auf mich ein und verstand nicht, warum ich jetzt, wo alles vorbei war, weinte. Wobei "vorbei" in dem Zusammenhang auch ein komisches Wort ist. Arme wachsen schließlich nicht nach. Die Menschen sind es nicht gewohnt, daß man auf Freundlichkeit mit Tränen reagiert. Aber ich hatte immer nur weinen können, wo ich mich sicher fühlte und von ihr ging keine Bosheit aus, auch wenn ich nicht verstand, was sie in diesem Krankenhaus suchte, wo solche Dinge getan wurden.

Nachdem sie den Drachenreiter zum Transporter gebracht hatte, ging die Psychologin direkt zum Büro des Professors.
"Jetzt haben sie ihn ins Zentralkrankenhaus gebracht und er muß sterben. Warum hast du nichts dagegen getan?" fragte sie den Professor vorwurfsvoll.
"Sie nehmen ihm einen Arm ab und dann kommt er zurück. Zu jeder Operation müssen sie vorher um Erlaubnis fragen und diese habe ich persönlich genehmigt." antwortete der Professor.
"Aber warum? Womit hat er das verdient?" fragte sie empört.
"Er ist ein Entbehrlicher. Wenn er etwas Besseres gewollt hätte, hätte er es sich verdienen müssen." antwortete der Professor.
"Was hätte er denn noch tun sollen? Ich habe selten eine bessere Beurteilung über einen Menschen geschrieben, als seine." antwortete die Psychologin.
"Er hätte nie Drachenreiter werden dürfen." antwortete der Professor.

Er erinnerte sich an diese sehr gute Beurteilung. Deshalb hatte er den Mann ja kennenlernen wollen und ihm zum Zoo geschickt. Die Kastration hatte er befohlen, um herauszufinden, wie dieser Mensch auf Druck reagiert - und aus demselben Grund hatte er der Operation zugestimmt, bei dem ihm ein Auge herausoperiert worden war.

Der Professor ging dann zu den anderen Drachenreitern, die interessanterweise bescheidwußten, was geschehen war, obwohl niemand es ihnen erzählt hatte. Sie weigerten sich, zu sagen, was dieses Ereignis ihnen gefühlsmäßig bedeutete, redeten nur mit einer klinischen Sachlichkeit darüber, als hätten sie sich Khaerith zum Vorbild genommen. Inzwischen hatte der Professor begriffen, daß sie das taten, weil sie ihn nicht ausstehen konnten. Das war dem Professor herzlich egal. Die beiden waren nur eine Stufe über entbehrlich klassifiziert - also keiner wie auch immer geachteten Beachtung wert. Der Drachenreiter Khaerith dagegen erhob sich allein durch seine Persönlichkeit über jede Einstufung, die man ihm zuteilen mochte.

Gerade als der Professor gehen wollte, erstarrten die Drachenreiter und ihr Blick wurde glasig. Er kniff in den Oberarm der neben ihm stehenden Frau und fragte herrisch:
"Was ist?"
Daeraith hob den Blick und sah ihn aus tiefdunklen unendlich schmerzerfüllten Augen an, zu der ihre sachlich klingende Simme im absoluten Gegensatz stand:
"Sie nehmen Khaerith einen Arm ab."
Der Professor ließ sie los und beobachtete still. Nach fast einer halbe Stunde entspannten sich die Drachenreiter merklich und Daera sagte:
"Er kommt zurück."
Also stimmte es doch, daß Drachenreiter Telepathen waren. Das hätte der Professor nicht gedacht.

Der Drachenreiter war immer noch so ruhig und stolz wie vorher, als der Professor am Abend mit ihm sprach. Und er schrieb einige Stunden an seiner Geschichte, als sei an diesem Tag nichts Ungewöhnliches geschehen. Den Professor behandelte er aber geradezu mit Verachtung.

Er war sich selber nicht so ganz klar warum, aber in dem Augenblick beschloß der Professor, daß er dem Drachenreiter die Zeit geben wollte, seine Geschichte vollständig aufzuschreiben.

Kersti


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Thema: Drachen

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