erste Version zwischen dem 11.5.2002 und dem 15.10.02

Das Drachenreich: Ich bin ein Zentaur

FE5.

Die Macht des geschriebenen Wortes

Vorgeschichte: FE4. Kersti: Der Sadist

Tiana, Psychologieprofessorin:
Der Wissenschaftler, der in der Diskussionsgruppe immer mit den Pseudonym Seriat unterschrieb, war mir schon mehrfach positiv aufgefallen.

Bei seinen ersten zurückhaltenden Kommentaren hatte ich angenommen, daß es sich um einen wissenschaftlichen Assistenten handele. Im Verlaufe der beiden Jahre, die er inzwischen schon in der Gruppe schrieb, bewies er aber eine dermaßen profunde Sachkenntnis, daß ich ihn inzwischen für einen Professor hielt. Er schien jedes einzelne Buch über das Thema gelesen zu haben und über jede verwendete Forschungsmethode bescheid zu wissen.

Die Lebenswissenschaften sind der einzige Forschungsbereich, in dem man genug Geld verdienen kann, um sich ein freies Leben und seinen Kindern ein Studium zu finanzieren. Alle anderen Berufszweige reichen nur dauerhaft zum Leben, wenn man sich selbst in die Sklaverei verkauft und so keine Kopfsteuern zahlen muß. Innerhalb der Lebenswissenschaften gibt es zwei große Richtungen: die Operationstechnik und die Psychologie.

Wer also keine Menschen fürs Leben verstümmeln, foltern oder mit einer Maschine zu einer Steuereinheit zusammenbauen will, hat nur noch den Berufszweig des Psychologen zur Auswahl. Das Fachwissen von Seriat ließ keine Rückschlüsse auf die von ihm gewählte Fachrichtung zu. In beiden Themenbereichen waren seine sachlichen Kommentare gleichermaßen durchdacht und er konnte sie durch diverse Quellen belegen. Auffällig war, daß er Wissenschafler oft von einer schonenderen Untersuchungsmethode überzeugen konnte, als diese selbst gewählt hätten. Tiana war das sympathisch.

Dann setzte Humbold, der bekannte Sadist unter den Wissenschaftlern einen dermaßen grausamen Folterplan ins Netz, daß sich Tiana einfach nur der Magen umdrehte, obwohl sie als Psychologin in ihrem Fachgebiet von den ihr anvertrauten Nichtmenschen oft sehr grausame Geschichten erfuhr. Zumeist wurden sie am Ende ihres Lebens bei vollem Bewußtsein seziert.

Seriat schrieb darauf eine Erwiderung, die er so mit Fachterminologie verklausulierte, daß ich zuerst kein Wort verstand. Daraufhin griff ich mir ein Fachlexikon und übersetzte es Wort für Wort. Schließlich brach ich in Lachen aus. Der alte Halunke hatte in einem absolut korrekten und höflichen Stil geschrieben, daß Humbold ein Sadist sei, dem es an der nötigen Intelligenz mangele, um richtige Forschungsarbeiten zu schreiben. Außerdem sei er nicht einmal intelligent genug, um seinen Arbeiten wenigstens den Anschein der Seriösität zu geben. Und das Schlimmste an dieser psychologischen Analyse war, daß sie absolut zutraf und mit Hilfe der von Humbold veröffentlichten Bücher minutiös belegt war. Außerdem hatte er auch noch äußerst sorgfältig darauf geachtet, überall, wo er von Intelligenz sprach, Fachbegriffe zu verwenden, die üblicherweise nur auf Tiere angewendet werden. Wo er aber über Sadismus redete, wählte er für Menschen typische Fachbegriffe.

Daraufhin beschloß ich, daß ich Seriat persönlich kennenlernen wollte. Sie schrieb ihn an und erhielt noch am selben Tag einen Termin zum Chat.

Die ersten Minuten des Chats gaben auch nicht mehr Aufschluß über die Stellung Seriats, als alles Vorhergehende. Er redete von Reitstunden, die sein Hobby waren, erklärte, daß er im Labor heute eine Nervenfunktionsprüfung miterlebt hätte und erzählte von einem Gespräch mit seiner Reitlehrerin, der er offensichtlich sehr zugetan war. Schließlich fragte ich ihn direkt, wo er leben würde und ob man einander einmal persönlich begegnen könne.
"Auf Gut Faht." antwortete er.
"Dann hattet ihr vielleicht Gelegenheit, den Zentaur Jorian zu sehen." meinte ich.
Es dauerte Minuten, ehe er die nächte Antwort schrieb.
"Jorian habe ich nur selten gesehen. Im Spiegel, wenn ich mal im Herrenhaus zu Gast war."
Zuerst begriff ich nicht was er meinte. Dann ergänzte er:
"Ich bin Jorian."
"Aber wie ist das möglich, du hast doch von Reitstunden geredet..."
"Selbstverständlich. Ich habe meine Freundin reiten lassen. Wir üben Dressur."
Ich fühlte mich, als hätte mir jemand mit der Faust auf den Magen geschlagen. Das konnte einfach nicht sein. Der Zentaur konnte höchstens fünfzehn sein - wie hatte er es geschafft, so wirkungsvoll den kompetenten Wissenschaftler zu mimen?
"Ich habe dich für einen Professor gehalten. Woher hast du so viel Fachwissen?"
"Ich habe gute Gründe, jedes Fachbuch zu lesen, daß ich über uns finden kann und bin jeden Tag stundenlang in meiner Box eingesperrt." antwortete er.
"Ich würde dich gerne wirklich gut kennenlernen. Hättest du etwas dagegen, wenn ich bei deinem Herrn einen Antrag für psychologische Forschung stelle?" fragte Tiana.
"Was machst du da?"
"Hauptsächlich mit dir reden, dich Fragebögen ausfüllen lassen und darüber Bücher schreiben."
"Darf ich die Bücher dann auch lesen und auch was reinschreiben?"
"Ja. Das würde mich freuen."
"Du bist mir willkommen." antwortete der Zentaur.

Jorian, der Zentaur:
Tiana überraschte mich, indem sie ein volles Jahr lang all meine Zeit als Forschungszeit beantragte. Das war für mich natürlich gut, da ich in dieser Zeit keine grausamen Folterversuche zu befürchten hatte - nur war so etwas sehr teuer und ich hatte nicht gewußt, daß sie sich das leisten konnte.

Auch ihre weiteren Forderungen überraschten mich positiv: Der Forschungstrakt wurde so umgebaut, daß ich eine richtige Wohnung bekam: eine strohgefüllte Box zum Schlafen, ein doppelt so großer Raum mit Tisch, kleiner Küche und Sesseln, damit ich Gäste für Gespräche empfangen konnte. Außerdem stand dort ein Computer mit Internetanschluß auf einem 2m hohen Schrank, also genau in der richtigen Höhe für mich. Ich hatte eine Vorratskammer, damit ich mich selbst daraus mit Futter versorgen konnte und ein verschließbares Klo, das ich mit meinem Pferdekörper benutzen konnte. Für Tiana war ein kleiner Raum direkt nebenan vorgesehen, der aber durch ein Gitter abgetrennt war, das so eng war, daß ich es nicht passieren konnte - Menschen aber schon.

Auch ihren Forschungsantrag fand ich gut: es schien mir, als würde er mir Gelegenheit bieten, genau das Buch zusammen mit ihr zu schreiben, das ich schon immer hatte schreiben wollen.

Leider durfte ich nicht mehr ohne Aufsicht ins Freie. Geria bestand darauf, daß ich täglich bewegt werden muß wie ein Pferd, so daß ich durch sie wenigstens täglich nach draußen kam. Aber so viel Zeit, daß ich so oft im Freien war, wie ich es mir gewünscht hätte, hatte sie nicht für mich.

Kanador, Gutsherr von Faht:
Als er vierzehn war und körperlich voll ausgewachsen, beschimpfte Jorian plötzlich aus heiterem Himmel einen Wissenschaftler und warf ihn einen Tag später zu allem Überfluß auch noch ab. Daher kam es mir sehr gelegen, daß eine Psychologin einen Forschungsantrag stellte, die ich um ein zusätzliches psychologisches Gutachten bitten konnte. Vielleicht neigten ja auch Zentauren dazu, bei Erreichen der Geschlechtsreife gewalttätig zu werden wie manche halbintelligente Rassen.

Wegen der schlechten Erfahrungen mit dem vorhergehenden Wisssenschaftler, sorgte ich dafür, daß die Reitlehrerin auf den Zentauren aufpaßte, als die Psychologin Tiana ankam. Doch ich erlebte eine neue Überraschung. Sie begrüßte er mit vollendeter Herzlichkeit, lud sie ein, auf seinen Rücken zu steigen - was er noch nie einem Wissenschaftler erlaubt hatte - und brachte sie selbst in die ihr zugeteilten Räume. Wahrscheinlich war es tatsächlich die Geschlechtsreife.

Tiana, Psychologin:
Es überraschte mich, wie herzlich Jorian mich empfing und daß er mich gleich auf seinem Rücken in meine neue Wohnung trug. Um mich für diese Freundlichkeit zu revanchieren, lud ich ihn zu einer Tasse Tee ein.

Nach den einleitenden Sätzen über Nebensächlichkeiten meinte er:
"Ich habe mir deinen Entwurf für die Forschungsarbeit angeschaut und ihn kommentiert. Mich würde interessieren, was du zu meinen Anmerkungen meinst. Außerdem möchte ich dich bitten, mir zu verraten, welche Ratschläge du meinem Herrn am Ende in dem Gutachten für ihn gibst."
Ich starrte ihn fassungslos an. Der Entwurf war verschlüsselt gewesen und nur an den Herrn des Zentauren gegangen.
"Aber das durftest du doch nicht lesen!" protestierte ich schließlich.
"Das ist reine Selbstverteidigung. Schließlich bin ich derjenige, an dem sie hier alle herumexperimentieren." antwortete er.
Sein Gesichtsausdruck war düster und ernst. Ich schluckte. Er hatte ja recht.
"Wenn du mich überraschen willst, solltest du dir besser etwas aus dem Stehgreif einfallen lassen. Alles andere ist zu leicht zu durchschauen." jetzt lächelte er spitzbübisch.
Ich entspannte mich wieder, weil mir klar wurde, daß er mir nicht böse war.
"Weißt du, du darfst mir ruhig Streiche spielen, mich hereinlegen, Schabernack machen. Nur bei wichtigen Dingen solltest du ehrlich sein. Ich hatte wahrhaftig schon mit genug Wissenschaftlern zu tun, denen es egal war, wie ich bei dem fühle, was sie tun. Die mich wie ein Tier behandelt haben und sich gewundert haben, daß ich nicht wie ein Schrank in der Ecke stehen bleibe, wenn sie mich dorthinstellen. Dich habe ich bisher anders kennengelernt. Begib du dich bitte nicht auch noch auf diese Ebene." jetzt klang Traurigkeit und Schmerz in seiner Stimme mit.

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Glücklicherweise stürmte in dem Augenblick eine Frau herein und fragte, ob alles in Ordnung sei.
"Tiana ist eine Freundin. Ich habe sie eingeladen und freue mich daß sie da ist." antwortete Jorian in einem beruhigenden Tonfall.
"Hast du sie etwa auch in diesem Brett kennengelernt?" fragte sie.
"Ja."
"Aber was mache ich, wenn er herausfindet, daß ich dich ins Netz gelassen habe?"
"Karima hat mich ebensooft an ihren Computer gelassen. Und ich gehe doch davon aus, daß deine Hilfe kein so wichtiges Detail ist, daß es unbedingt in die Forschungsarbeit mit einfließen muß, oder?" fragte Jorian.
"Nein. Selbstverständlich nicht." antwortete ich und fragte mich, wie dieser Zentaur es schaffte, mir ständig einen Schritt voraus zu sein. Nein. Diese Forschungsarbeit würde nicht lediglich interessant werden - sondern atemberaubend und voller unvorhersehbarer Wendungen.
"Ich wollte diese Forschungsarbeit, weil ich meine eigenen Ziele damit habe. Dein Entwurf gefällt mir. In den Anmerkungen habe ich erklärt, worum es mir geht. Ich bin mir selbstverständlich im Klaren darüber, daß du nicht jeden meiner Vorschläge übernehmen wollen wirst. Wenn du ein oder zwei davon mit einarbeitest will ich zufrieden sein." teilte Jorian ihr mit und lächelte.
Die andere Frau lachte.

Dann meinte sie:
"Jori, ich glaube, du solltest die arme Frau jetzt langsam alleine lassen. Sie wird sich erst einmal von dem Schock erholen müssen, dich richtig kennengelernt zu haben. Nicht wahr?"
Jorian schnaubte. Ich sah auf, schüttelte den Kopf und sagte schließlich:
"Ich muß auch noch auspacken."
Glücklicherweise schien Jorian nicht beleidigt, weil er weggeschickt wurde, wünschte uns noch einen guten Abend und ging.

Die Frau ging mir beim Einräumen zu Hand und meinte:
"Nach einem Gespräch mit ihm weiß ich auch oft nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Er schafft es doch immer wieder, mich zu überraschen, dabei kenne ich ihn jetzt schon seit fast zehn Jahren."
"Allerdings..."
"Ich kann mir denken, was er sich wünscht. Kennen sie "Der sanfte Weg" von dem Löwenmenschen Taurin und Professor Deandrar?"
"Ja. Es ist das beste psychologische Werk, das ich kenne. Beide schreiben sie sehr einfühlsame psychologische Analysen. Erst dadurch habe ich begriffen, daß nicht nur die Nichtmenschen stark durch ihre Instinkte geprägt werden, sondern wir Menschen fast ebensosehr. Es fällt uns nur nicht auf, weil wir unsere Instinkte so lange kennen, wie wir leben. Ich hatte immer davon geträumt, etwas Ähnliches zu schreiben."
"Ich glaube, das ist genau das, was er wünscht. Jorian liebt dieses Buch und hat darauf bestanden, daß ich es auch lese. Allerdings hat Jorian es schwerer in seinem Leben als dieser Löwenmensch. Es ist kaum zu glauben, wieviel Folter er über sich ergehen lassen muß." sagte sie.
"Folter?"
"Da war so ein Kerl namens Humbold - der nur hierher gekommen ist, um ihn zu foltern."
"Er hat seine unsäglichen Pläne tatsächlich umgesetzt?" fragte ich.
"Schlimmer. Jorian hat ihn gereizt, bis Humbold ihn einen ganzen Tag lang automatischer Folter ausgesetzt hat und vom Hof geflohen ist."
"Einen ganzen Tag? Das hätte ihn umbringen können!"
"Das habe ich ihm auch gesagt. Daraufhin hat er mit den Schultern gezuckt und meinte "Ich weiß.""

Jorian, der Zentaur:
Ich achtete darauf, täglich die Post des Herrn auf Forschungsangebote zu durchsuchen, die mich betrafen. Ich wollte im Notfall genug Zeit zur haben, um meinen sorgfältig vorbereiteten Fluchtplan in die Tat umsetzen zu können.

Gegen Ende der Arbeit am Buch arbeitete ich manchmal 12 Stunden am Tag an der Endkorrektur. Es hatte mir diebisches Vergnügen bereitet, all die unmöglichen Behauptungen zu widerlegen, mit denen sich Wissenschaftler einzureden versuchen, was sie mir antun, wäre gar nicht so schlimm. Es gefiel mir, dieses Buch, das ich zur Hälfte selbst geschrieben hatte, Gestalt annehmen zu sehen. Darüber vergaß ich einige Male, die Mails an meinen Herrn zu durchsuchen.

Als ich es dann doch tat, fand ich eine drei Tage alte Zusage an einen Forscher, in der er schriftlich die Erlaubnis erhielt, mir für einen hohen Betrag ein Auge und den rechten Arm für Forschungszwecke herauszuoperieren. Angegeben war auch, daß die Operation am nächsten Morgen um 8 Uhr stattfinden sollte. Im Netz fand ich eine Anzeige, wo meine sämtlichen Organe für Forschungszwecke angeboten wurden. Die Anzeige war erst zwei Tage alt. Am Tag darauf waren drei weitere Forschungsanträge für Organe von mir eingegangen.

Zuerst war ich einfach nur entsetzt. Dann suchte ich nach einem Vorwand, um die Gebäude zu verlassen. Mir fiel kein echter Grund ein, also bat ich Tiana:
"Kannst du mich mal rauslassen? Langsam kann ich dieses Buch einfach nicht mehr sehen. Ich brauche frische Luft."
"Tut mir leid, Jorian. Der Herr hat ausdrücklich befohlen, daß du bis morgen früh nicht dieses Gebäude verlassen darfst. Er meinte ich solle dich ablenken, aber du dürftest nicht beobachten, was draußen geschieht. Die Eingangsschleusen sind leider so programmiert, daß ich Dich nicht passieren lassen kann."
Ich starrte sie zuerst wortlos an. Dieser Trick würde nicht funktionieren. Da für Tiana zu viel auf dem Spiel stand, wenn sie gegen die Vorschriften verstieß, mußte ich sie in das Problem einweihen, um ihre Mitarbeit zu gewinnen.
"Dann möchte ich dir etwas zeigen, Tiana." sagte ich und rief ein paar Seiten meines Buches, dann stellte ich die Abhörgeräte auf eine Endlosschleife und zeigte ihr das Angebot auf meine Organe.
Während Tiana las, wurde sie leichenblaß. Als ich ihr sacht die Hand auf die Schulter legte, brach sie in Tränen aus. Es war merkwürdig, zu beobachten, wie ein Mensch die Gefühle, die eigentlich meine eigenen gewesen wären, stärker zeigte, als ich selber sie in dem Augenblick empfinden konnte, da ich sie unter Kontrolle hielt, um handlungsfähig zu bleiben. Tiana selbst hatte nie eine Veranlassung gehabt, solch eiserne Selbstbeherrschung zu lernen. Ich wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte und sagte dann, daß ich nur kurz die Box verlassen müsse. Ob sie irgendeinen Weg wüßte, mir das zu ermöglichen.

Wir diskutierten fast eine Stunde, die verschiedenen Möglichkeiten durch, doch Tiana räumte allem, was mir einfiel, eine zu geringe Erfolgschance ein, als daß sie dafür den Ärger auf sich genommen hätte, den es ihr eingebracht hätte, mir zu helfen. Sie war offensichtlich der Ansicht, daß ich überhaupt keine Chance hatte.

Schließlich bat ich sie, zum Herrn zu gehen. Sie solle so lange betteln, bis er mich rausläßt oder ihr verrät, daß mir Organe herausgenommen werden sollen und dann solle sie so viele Informationen aus ihm herauszubekommen wie möglich. Tiana tat, worum ich sie gebeten hatte. Sie hatte erst am nächsten Morgen Zeit, mir Bericht zu erstatten. Wie ich selbst herausgefunden hatte, würde ich um acht in meiner Wohnung operiert werden. Danach würde ich zu dem Gebäude mit dem Regenerator geführt, da geplant war, die entnommenen Organe zu regenerieren.

Die Stunde bis zur Operation nutzte ich, um zu überlegen. Da das Gerät nicht in meiner Box war, gab mir diese Information in zweierlei Hinsicht Hoffnung. Zum einen bot sich nach der Operation eventuell eine Fluchtchance, da der Regenerator nicht in meiner Wohnung war. Was auch immer ich draußen nicht sehen sollte, war nicht im Netz dokumentiert. Entweder waren diese neuen Überwachungsgeräte mit an denselben Hauptstromkreis angeschlossen wie die alten oder vollständig außerhalb meiner Reichweite installiert. Das würde ich nur durch Ausprobieren herausfinden können. Wenn ich mit der Flucht Erfolg hatte, hieße das, daß ich für den Rest des Lebens verkrüppelt wäre. Das wäre es wert, denn vermutlich würde ich sonst innerhalb eines Jahres getötet.

Denkbar war auch, daß jemand genug Geld für mich im gesunden Zustand bot, daß sie den Regenerator so lange laufen ließen, bis ich vollständig wiederhergestellt wäre. Das war ziemlich unwahrscheinlich, denn dann hätte mein Herr gar nicht erst die Angebote auf meine Organe angenommen.

Tiana, die Psychologin:
Die Arbeit mit Jorian war für mich von Anfang an sehr aufwühlend. Es fängt damit an, daß er regelmäßig Dinge tut, auf die kein normaler Mensch gekommen wäre. Auch kein normaler Nichtmensch. Immer wieder durchschaut er psychologische Tricks und man hat statt eines verwertbaren Forschungsergebnisse eine schriftliche Analyse der eigenen Forschungsmethoden vorliegen. Das ist so anstrengend, daß ich mir manchmal gewünscht hätte, er wäre weniger ehrlich und hätte einfach so getan, als hätte er es nicht durchschaut.

Außerdem hat er Fantasie für zehn. Für jeden meiner psychologischen Versuche revanchiert er sich auf seine Weise. Nicht boshaft - dennoch - jetzt weiß ich wie sich ein Nichtmensch fühlen muß, der der Reihe nach durch zwanzig oder dreißig Versuchsreihen geschleust wird. Es ist kein gutes Gefühl, wenn man nachher regelmäßig absolut zutreffende Analysen der eigenen Reaktionen vorgelegt bekommt. Irgendwann habe ich ihn deshalb angefahren, er solle mich gefälligst nicht immer analysieren. Ein eigenartiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht:
"Tiana, du arbeitest seit über zwanzig Jahren in der psychologischen Forschung. Es ist Zeit, daß du begreifst, wie es ist, von allen Seiten erforscht zu werden, ohne sich dagegen wehren zu können. Du kannst die Arbeit an dem Buch abbrechen. Das wirst du nicht tun, weil du zu viel Arbeit darein investiert hast, deshalb fühlst du dich so hilflos. Die Nichmenschen, die du erforscht hast, hatten keinerlei Möglichkeit, sich dir zu entziehen."
"Du hättest nein sagen können." widersprach ich.
"Ja. Ich bin dir aber auch sowohl intellektuell als auch von der Stärke meiner Persönlichkeit her weit überlegen. Ich spiele oft innere Stärke und Intelligenz gegen äußere Macht aus. Manchmal funktioniert es." antwortete er.
"Was hast du eigentlich mit Humbold gemacht? Er hat seither niemanden mehr gefoltert."
"Ich habe ihm ganz demonstrativ Verachtung gezeigt. Verachtung für seine Geisteshaltung, Verachtung seiner Foltern, Verachtung seiner Macht. Dann habe ich ihn einmal abgeworfen und das reichte. Er war schon immer ein Feigling."
Wirklich unheimlich ist er mir aber geworden, als er mich gestern rief. Mit einen freundlich-beiläufigen Ton bat er mich, mir etwas anzusehen. Nachdem ich gelesen hatte, daß sie ihn bei lebendigem Leibe förmlich ausnehmen wollten, bat er um Hilfe. Leider hatte ich wirklich keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Kurz nach der ersten Operation gingen Sirenen los. Zuerst wußte ich nicht, was los war, denn es waren nicht die, die installiert worden waren, um zu melden, falls Jorian zu fliehen versuchte.

Männer von den Wachtruppen begaben sich mit Spürhunden auf die Suche. Bald darauf teilte mir jemand mit, daß Jorian zu fliehen versucht hätte. Aber er sei glücklicherweise wieder eingefangen worden. Allerdings seien die alten Sirenen ausgefallen - die Ursache für den Defekt sei nicht bekannt.

Ich wußte sofort, daß Jorian die alten Sirenen irgendwie sabotiert hatte. Von den neuen hatte ich selbst nichts gewußt, sonst hätte ich ich ihre Existenz wohl zumindest angedeutet, auch wenn ich es nicht gewagt hätte, ihn direkt zu warnen, weil ja überall Abhörgeräte waren.

Einen Tag lang war er durch den Foltersender, mit dem sie ihn außer Gefecht gesetzt haben, bewegungsunfähig. Ich ging sofort, als sie mich ließen, zu ihm. Ihm fehlte ein Auge und der linke Arm und die Operation, bei der sie ihm auch noch das andere Auge und ein Hinterbein rauben würden, stand kurz bevor. Dennoch begrüßte er mich fröhlich wie immer und hieß mich willkommen. Heiter erklärte er mir, er sei ja leider genau das passiert, was er erwartet hätte, nach meiner Bemerkung, daß ich ihn nicht rauslassen dürfe. Jetzt würde sich keine Chance zur Flucht mehr ergeben, weil er in wenigen Minuten nicht mehr gesund genug sein würde, um in der Wildnis allein zurechtzukommen.

"Schreib das Buch zuende, hörst du? Und erzähl mir regelmäßig, wie weit du bist, auch wenn ich nicht mehr mit dir reden kann. Es ist mir wichtig." sagte er eindringlich.
Ich war fassungslos, daß er in so eine hoffnungslosen Situation an so banale Dinge denken konnte.

Jorian, der Zentaur:
Nach dem mißlungenen Fluchtversuch besuchte mich meine Freundin Tiana. Ich freute mich, denn es ist scheußlich, wenn das einzige, womit man sich beschäftigen kann, grauenhafte Schmerzen sind. Selbstverständlich hätte ich auch ein paar Stunden über meine Zukunft nachdenken können: endlose Foltern, bei denen sie mir jedes innere Organ und jedes Körperteil mehrfach nacheinander abschneiden, weil es ja - dank Regenerator - immer wieder nachwächst.

Tiana weinte, als sie mich so sah. Dabei hätte ich dringend jemanden gebraucht, bei dem ich mich hätte ausheulen können. Mir ging es wirklich schlechter als ihr. Ich hatte den Verdacht, daß diese Situation ihr so wehtun könnte, daß sie es nicht schafft, das Buch zuendezuschreiben. Sie brauchte das Geld, das sie damit verdienen konnte. Ich wußte, daß durch "Der sanfte Weg" des Löwenmenschen Gesetze geändert wurden, so daß alle Nichtmenschen danach bessere Chancen im Leben hatten. Er selbst erhielt dadurch dieselbe Anerkennung wie jeder Wissenschaftler. Ich vermutete, daß mein Buch für mich zu spät kommen würde - einen Versuch war es wert - und zumindest den anderen neugeschaffenen Nichtmenschen würde es mit Sicherheit etwas bringen. Allein deshalb wollte ich schon, daß es veröffentlicht würde.

Tiana hat mich beinahe täglich besucht, mich gestreichelt und mit mir geredet. Allerdings habe ich von ihren späteren Berichten nahezu nichts in Erinnerung, nur die Wärme ihrer Hand, ihre Stimme und wie gut es war, daß mich wenigstens eine liebte.

Es ist nicht dasselbe, ob man mal eine Ohrfeige bekommt, und dann ist es vorbei - oder ob man über Jahre hinweg Schmerzen hat, die so überwältigend sind, daß man sie nicht aus dem Zentrum seines Bewußtseins drängen kann. Hinzu kam noch, daß sie etwas in den Regenerator eingebaut hatten, das verhindern sollte, daß ich sterben kann. Dieses Gerät - eine Seelenfalle - hatte aber den Nebenefekt, daß ich weder schlafen noch das Bewußtsein verlieren konnte, denn in beiden Fällen verläßt die Seele vorübergehend den Körper.

Kurz vor der Fertigstellung des Buches, bat ich Tiana, einen bestimmten psychologischen Test zu machen, der meine Fähigkeit überprüfen sollte, grausame Mißhandlungen zu überstehen, ohne daran innerlich zu zerbrechen. Er ergab das, was ich schon über mich wußte:
"Jorian, ich habe jetzt die Testergebnisse. Du bist einer der ganz wenigen, die fähig sind, jegliche Operation zu überstehen, ohne daran innerlich zu zerbrechen. Du hast die psychologische Struktur, bei der man sich darauf verlassen kann, daß du auch eine Umoperation zu einem Gehirnschiff unbeschadet überleben würdest." teilte mir Tiana das Ergebnis mit.
Ich bat sie, das auch ins Buch zu schreiben.

Tiana, Psychologin;
Es war schrecklich, mitanzusehen, wie sie Jorian nach und nach zu Tode quälten. Dennoch ging ich täglich zu ihm, denn ich wußte, wie sehr er mich brauchte. Seine Reitlehrerin - Geria durfte ihn nicht mehr besuchen, weil sie immer wieder gegen diese schreckliche Quälerei protestiert hatte. Nachdem meine Forschungszeit abgelaufen war, besuchte ich ihn ein letztes mal.

Ich kniete sich neben den Behandlungstisch mit den Überresten des Zentauren. Er hatte keine Hand mehr, mit der er nach meinen Händen hätte greifen können, beide Augen fehlten und der Kehlkopf, so daß er mich weder sehen noch mit mir sprechen konnte. Was sonst noch alles fehlen mochte, wollte ich lieber erst gar nicht schauen. Sie hatten ihn geradezu ausgeschlachtet.

Ein Zittern ging durch den zerfetzten Körper. Er war wach und hörte zu.
"Jorian, ich wollte dir sagen, daß ich jetzt fertig bin mit dem Buch. Ich fahre jetzt weg, um es in Druck zu geben."
Er bewegte sich und ich nahm es als Bestätigung, daß er verstanden hatte.
"Ich kann dir immer noch keine Hoffnung geben. Es sind noch weitere Angebote auf Körperteile von dir eingegangen aber niemand, der es bezahlen könnte, will dich lebend." fuhr ich fort.
Jorian atmete tief durch und entspannte sich dann. Ich suchte eine Stelle, wo noch etwas von seinem wunderschönen schwarzen Fell zu sehen war und streichelte ihn sanft. Dann ging ich hinaus und brach in Tränen aus.

Jorian, der Zentaur:
Ich hatte gelesen, daß viele Menschen die Hoffnung verlieren, sobald sie niemanden mehr haben, mit dem sie ihre Sorgen teilen können. Unter schwierigen Umständen ist es nahezu unmöglich, die Hoffnung zu bewahren, wenn man allein ist. Zu meinem Entsetzen mußte ich feststellen, daß diese Regel auch für mich galt.

So lange Tiana mich täglich besuchte, wollte ich weiterleben und tat alles, um dieses unerreichbare Ziel dennoch zu erreichen. Ich glaube, sie war kaum zwei Tage weg, als ich jegliche Hoffnung verlor und nur noch überlegte, wie ich Selbstmord zu begehen könnte, um diesen ständigen Schmerzen zu entgehen. Ich war so an den Boden gekettet, daß ich mich kaum rühren konnte. Jeder scharfe Gegenstand wurde sorgfältig außerhalb meiner Reichweite gehalten. Am schlimmsten war jedoch, daß ich wegen einer der zum Regenerator gehörenden technischen Einrichtungen nicht einmal schlafen und dadurch vorübergehend den Schmerzen entfliehen konnte.

Hinzu kam, daß sie mir mehrfach die Augen und Ohren herausoperiert hatten, so daß ich nicht einmal sehen konnte, was um mich herum vorging. Mit den Menschen, die mich operierten, wollte ich nicht reden und sonst kam niemand herein. Auch die Reitlehrerin besuchte mich nicht, was für mich am bittersten war, da sie mir immer wie eine Mutter gewesen war.

Gats, der Leiter des Forschungszentrums von Dulitz erzählt:
Ich betrachtete nachdenklich das Buch, das ich gerade ausgelesen hatte. Noch nie hatte ich ein so erschütterndes psychologisches Werk gelesen.

Jetzt fiel mir ein, daß ich den Zentaur kannte, von dem es handelte. Als ich ihn kennengelernt hatte, war ich noch zehn Jahre jünger gewesen und hatte mein Fernstudium, das ich neben meiner Arbeit absolviert hatte, noch nicht abgeschlossen. Der Zentaur mußte damals zehn gewesen sein, war aber schon voll ausgewachsen.

Es war bei einer Geburtstagsfeier gewesen, an der ich als Bediensteter der gastgebenden Familie teilgenommen hatte. Tagsüber hatte der Zentaur wohl jedes der eingeladenen Kinder ein paar mal reiten lassen und stundenlang mit ihnen gespielt. Als Abends jedoch das Festessen begann, wurde er fortgeschickt, da er das Essen nicht vertragen würde. Er gehorchte ohne Widerspruch. Ich aber fand ihn hinter den Büschen, wo er still vor sich hinweinte.

Da er mir leid tat, fragte ich ihn, was er gerne essen wolle und brachte ihm dann von allem, was es am Tisch gab, einen Bissen. Ich entdeckte in ihm eine verwandte Seele: diese Mischung an Stolz, Zielstrebigkeit, Intelligenz und Disziplin, die seine Persönlichkeit ausmachte, hätte es ihm ermöglicht sich selbst von den Ärmsten der Armen bis in die Schicht der Freien hochzuarbeiten, wenn er nicht ausgerechnet ein Nichtmensch der ersten durch Gentechnik erzeugten Generation seiner Rasse gewesen wäre. Allein die Kosten der gentechnischen Entwicklung machten ihn so teuer, daß er sich niemals würde freikaufen können. Das Buch stammte zur Hälfte von ihm. Es war nicht zu übersehen, daß er, obwohl er erst zehn Jahre alt war, sich ein psychologisches Wissen angeeignet hatte, wie kaum ein Wissenschaftler, der 50 Jahre studiert hat. Es war mir ein Rätsel, wo er das ganze Wissen her hatte, denn er sagte, daß er am Unterricht der Tochter des Hauses nicht teilnehmen durfte.

Das Buch war von der Sorte, die einem alle Haare zu Berge stehen läßt. Sie haben ihn schließlich an den Regenerator angeschlossen, um Organe für die Forschung zu züchten. Ganz am Ende fand sich ein psychologischer Test, bei dem nachgewiesen war, daß der Zentaur Jorian selbst nach einem Jahr dieser Folter noch seelisch und geistig stabil war.

Das gab ihm vielleicht eine Chance. Als Leiter eines Forschungszentrums konnte ich ihn auf eigene Verantwortung kaufen - obwohl er so teuer war, daß ich ihn nie mit meinem eigenen Geld hätte bezahlen können. Also setzte ich mich nach einer schlaflosen Nacht an den Computer, durchsuchte alles nach Informationen, mit denen ich einen solchen Kauf würde rechtfertigen können und erstellte eine Kosten-Nutzen-Analyse, die bewies, was ich bewiesen haben wollte: es würde sich lohnen.

Als Nächstes verfaßte ich ein Schreiben an den Besitzer Jorians, in dem ich anbot, den Zentaur für einen angemessenen Preis zu kaufen, falls er geistig und seelisch immer noch stabil wäre und innerhalb von anderthalb Jahren körperlich völlig gesund abgegeben werden könne. Als gewünschte Prüferin gab ich die Autorin des Buches an. Sofern er überhaupt leben wollte, würde er bei ihr die besten Ergebnisse bringen. Sonst war es sowieso zu spät für ihn. Die Frist war die kürzeste, die ich setzen konnte, wenn ich nicht riskieren wollte, ihn wegen schon bestehender Verträge nicht zu bekommen, da die völlige Regeneration eines Organs bis zu einem Jahr dauern kann.

Jorian:
Eines Tages hörte ich wieder Tianas vertraute Schritte. Ich dachte zuerst, ich hätte es mir nur eingebildet, doch sie sagte:
"Jorian, das Lebensinstitut von Dulitz hat ein Angebot auf dich gemacht. Sie wollen dich lebend und gesund. Du mußt aber einen Psychotest bestehen. Bist du dazu bereit?"
Da sie mir wieder einmal den Kehlkopf herausoperiert hatten, konnte ich nicht sprechen und nickte nur. In meinen Gedanken stand alles Kopf, weil ich überhaupt nicht damit gerechnet hatte, noch eine Überlebenschance zu bekommen. Außerdem wußte ich nicht, ob ein weiteres Jahr am Regenerator nicht ein zu hoher Preis wäre - es ist eine einzige Folter. Ich bezweifelte, daß ich dort ein lebenswertes Leben würde führen können... Kurz: sämtliche Ängste und Zweifel, die ich je gehabt hatte, kochten in mir hoch. Glücklicherweise mußte sie noch einiges vorbereiten, so daß ich eine Nacht Zeit hatte, um mit mir selbst ins Reine zu kommen. Danach glaubte ich zwar, daß ich mir Tianas Besuch nur eingebildet hatte, aber ich wußte wenigstens, daß ich leben wollte.

Es gibt einige Tests, um die geistige und emotionale Stabilität von Folteropfern zu überprüfen. Dieser beruhte, da ich damals weder reden noch sehen konnte, auf meinen Reaktionen auf laut vorgelesene Fragen. Durch einen Tastendruck sollte ich einige Fragen mit "Ja", "Nein" oder "Ich weiß nicht" beantworten, gleichzeitig wurden Gehirnströme und einige Muskelreaktionen gemessen, so daß sie ein recht zutreffendes Bild von meinen Gefühlsreaktionen auf die angesprochenen Themen - aber auch auf bewußt eingeblendete Hintergrundgeräusche bekamen. Dann verschwand Tiana wieder und ich hörte nichts mehr von ihr.

Am Tag nach dem Test haben sie mir noch einmal mehrere Organe herausoperiert und Arme und Beine abgeschnitten, deshalb dachte ich, ich hätte nicht bestanden. Ein halbes Jahr voller Operationen und ein weiteres Jahr mit ständigen Schmerzen durch die Regenerationstherapie folgte.

Eines Tages wurde der Regenerator ausgestellt. Männer mit Stangen stürmten in den Raum, brüllten herum, zogen von allen Seiten, an den Ketten, mit denen ich gefesselt war und einer knallte zu allem Überfluß mich der Peitsche. Ich fühlte mich durch dieses Chaos absolut überfordert. Mir war danach, in Tränen auszubrechen. Dennoch würden ich sie beruhigen müssen, wenn ich nicht wollte, daß sie mich wirklich schlugen. Aus Erfahrung wußte ich: wenn Menschen Angst haben, fangen sie an, sich aufzuspielen.

Zuerst versagte meine Stimme, die ich in den letzten Jahren viel zu selten benutzt hatte. Erst beim zweiten Anlauf, gelang es mir zu sagen:
"Immer mit der Ruhe. Ich komme auch freiwillig mit."
Mir blieb keine Wahl, da ich zu schwach war zum fliehen. Als sie mich losmachten, kam ich nur mühsam auf die Beine. Ich konnte dem jungen unsicheren Mann, der mich führte, nur im Schritt folgen. Sie ketteten mich in einen Pferdeanhänger an. Die Fahrt habe ich als sehr anstrengend in Erinnerung. Als der Wagen schließlich hielt, jemand mir die Ketten löste und mich herausführte, legte ich mich sofort hin und schlief ein, so müde war ich.

Erst als ich wieder erwachte, nahm ich meine Umgebung wahr. Ein Gewächshaus, groß genug, um darin zu galloppieren, rundherum Mauern, an den Rändern zehn, in der Mitte etwa 50 Meter hoch, mit einer durchsichtigen Kuppel überdacht, so daß Gras und sogar Bäume darin wachsen konnten. Neben mir stand eine weiße Zentaurenfrau.
"Wo bin ich?" fragte ich.
"Im Lebensforschungszentrum Dulitz. Das weiß doch jeder."
Ich fragte mich, wie sie zu so einer bescheuerten Antwort kam und rappelte mich auf. Nach der langen Untätigkeit hatte die Fahrt im Pferdewagen ausgereicht, um mir einen ausgewachsenen Muskelkater einzubringen. Danach fiel mir auch ein, wer sie sein mußte: in Dulitz lebte die Zentaurenfrau Elis, die als einzige von den drei lebenden Stuten vollkommen gesund war. Die anderen waren hinfällig. Wer wie ich aus eigener Erfahrung weiß, wie es ist, durch hunderte von Forschungsvorhaben geschleust zu werden, kann sich denken, woran es liegt. Ich und Elis waren gesund, da wir als einzige so viel Platz hatten, wie ein Pferd braucht, um gesund zu bleiben. Jeder Idiot hätte sich denken können, daß ein Zentaur körperlich dieselben Bedürfnisse hat. Wissenschaftler sind schließlich keine Idioten - sie sind schlimmer. Elis gehörte zu den zweiten fünf gentechnisch erzeugter Zentauren. Sie war deshalb fünf Jahre jünger als ich und nach den Büchern, die ich über sie gelesen hatte, geistig zurückgeblieben. Nicht, daß es ihr an Begabung gemangelt hätte: sie hatte die ersten fünf Jahre ihres Lebens nur mit Wissenschaftlern und dem Pferd Kontakt, das ihre Mutter war. Daß Wissenschaftler mit ihren Forschungsobjekten nicht reden, ist ja bekannt. Der neue Leiter, der nach diesen fünf Jahren das Zentrum übernahm, hatte angeordnet, daß jeder im Zentrum erzeugte Nichtmensch eine menschliche Pflegemutter und regelmäßigen Schulunterricht bekommen sollte. Für Elis kam das leider zu spät.

Kurz gesagt: meine Kindheit war verglichen mit dem Leben eines armen Sklavenjungen scheußlich - aber es ging mir immer noch weit besser, als den anderen fünf lebenden Zentauren. Vier weitere waren längst gestorben.

Eine Woche ließen sie mich dort völlig in Ruhe - körperlich brauchte ich das, um wieder in Form zu kommen, aber es gab mir auch Gelegenheit, mir tausend ekelhafte Möglichkeiten einfallen zu lassen, was sie mit mir vorhaben könnten. Eli war nett, aber es war Nervenaufreibend, von ihr den ganzen Scheiß zu hören, den Wissenschaftler ihren Opfern einreden: Daß man dankbar sein muß, daß sie einen überhaupt erschaffen haben. Für das große Vorrecht, leben zu dürfen und so etwas Besonderes geworden zu sein, seien die vielen Experimente ein kleiner Preis. Es fiel mir schwer, freundlich zu bleiben, während ich ihr klar machte, wie egoistisch jede einzelne Entscheidung gewesen war, die zu ihrer Erschaffung geführt hatte. Nur hätte es dieses unschuldige Wesen wirklich nicht verdient, daß ich auch noch grausam zu ihm gewesen wäre.

Ich graste gerade auf der Wiese des Gewächshauses, als ich von hinten angesprochen wurde.
"Jorian? Der Leiter des Zentrums wünscht euch zu sprechen. Wenn ihr mir bitte folgen würdet?"
Ich schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam. Eine blasse blonde Frau stand in einer offenen Tür in der Wand. Ich trabte zu ihr hinüber und gab ihr die Hand.
"Selbstverständlich. Mit wem habe ich die Ehre?"
"Ach, ich bin nur eine einfache Institutssklavin."
"Aber du hast doch sicherlich trotzdem einen Namen?"
"Erda."
"Freut mich, dich kennenzulernen, Erda. Möchtest du auf dem Weg zum Institutsleiter reiten?"
"Reiten?" erstaunt sah sie mich an, "Aber der Herr hat gesagt ich soll euch wie einen Professor behandeln. Mit dem Buch, das ihr geschrieben habt, hättet ihr bewiesen, daß ihr das verdient."
Mir wurde bewußt, daß sie im Gegensatz zu den Pferdeburschen des Gestüts, auf dem ich aufgewachsen war, vermutlich noch nie auf einem Pferd gesessen hatte.
"Reiten ist ein Hobby von mir. Ich habe zusammen mit der Tochter des Gutsherrn einige örtliche Dressurwettkämpfe gewonnen. Möchtest du aufsteigen? Ich gehe auch ganz langsam."

So - als überspanntes Hobby der Reichen dargestellt, konnte sie das Angebot akzeptieren. Es ist immer wichtig, gute Beziehungen zu den einfachen Sklaven zu haben. Sie haben nicht die Ausbildung, zu durchschauen, was ich mit meinen Fragen beabsichtige. Deshalb geben sie Antworten, die die Höheren unter den Angehörigen des Instituts nie zu geben wagen würden, weil sie sich an fünf Fingern abzählen können, daß es Teil eines Fluchtplanes ist. Die einfachen ungebildeten Sklaven werden dafür auch nicht bestraft, weil jeder begreift, daß sie es nicht besser wissen konnten. Außerdem werden sie durchaus manchmal für Organtransplantationen verbraucht. Sie können sich vorstellen, welche Ängste ich manchmal auszustehen habe. Nur hätte sich bei ihnen niemand die Mühe gemacht, sie nachher an einen Regenerator anzuschließen. Ungebildete Sklaven gibt es schließlich im Dutzend billiger. Manchmal hätte ich es vorgezogen, einer von ihnen zu sein. Dann hätten die täglichen Foltern nicht so lange gedauert.

Sie führte mich zu einem Raum, der wo ich ihn betrat, vier Meter hoch war. Die andere Hälfte hatte einen um anderthalb Meter erhöhten Fußboden, auf dem ein gedeckter Tisch stand. Der Institutsleiter erwartete mich dort. Ich begrüßte ihn höflich. Er begann, indem er mir Kuchen anbot - eine Geste, die mich völlig überraschte, da ich nie hatte welchen essen dürfen. Ich vertrage nicht viel davon, weil ich das empfindliche Verdauungssystem von Pferden habe, das auf Gras als Hauptnahrung eingerichtet ist. Offensichtlich hatte er beschlossen, mich tatsächlich wie einen Gleichgestellten zu behandeln. Ich nahm ein halbes Stück an. Mehr wäre wirklich nicht ratsam gewesen.

"Ich habe euer Buch gelesen und bewundere eure Arbeit. Da dachte ich mir, es muß doch möglich sein, die Zahlen so zu frisieren, daß ich den Herren überzeugen kann, daß es sich lohnt, euch zu kaufen. Ich mußte eine Weile damit spielen, ehe mir die Lösung einfiel: wenn ich euch als stellvertretender Institutsleiter einstelle, lohnt sich der Preis, den wir zahlen mußten."
Ich starrte ihn wie vom Donner gerührt an.
"Das ist nicht so gut, wie es klingt. Es heißt, daß ihr selbst die Forschungsvorhaben genehmigen müßt, die an euch durchgeführt werden. Man kann die Kosten-Nutzen-Analysen nicht immer so drehen, daß man die wirklich häßlichen Ideen freiberuflicher Wissenschaftler ablehnen kann. Bei kleinen Beträgen hilft manchmal ein psychologisches Gutachten... aber wenn es um zu viel Geld geht, ist das hoffnungslos. Auch an Sicherheitseinrichtungen kann ich dich nicht heranlassen. Jeder Idiot wird begreifen, daß du dir für alle Fälle einen wirkungsvollen Fluchtplan schmieden würdest. Aus demselben Grund wirst du trotz deiner Stellung nicht das Recht haben, die Institutsgebäude zu verlassen."
Ich wußte doch, daß es einen Haken haben mußte.

"Andererseits ist dein Gehalt hoch. Vielleicht wird es einmal reichen, daß du dich freikaufen kannst."
"Ich mich freikaufen? Du machst Witze. Du weißt doch, wieviel ihr für mich bezahlt habt. Ich nehme doch stark an, daß ich Familie haben werde, ob ich will oder nicht - wo man doch so gut an Zentaurenfohlen verdienen kann." gab ich bissig zurück.
Er sah mich nur stumm an. Dann nickte er. Er selbst hatte im Netz einmal geschrieben, daß, wer Familie hätte wie er, sich niemals freikaufen kann, weil es zu teuer ist, Kinder so auszubilden und zu unterhalten, daß sie später eine Chance im Leben haben. Daraufhin kamen von seinen Kollegen - die aus reichen Familien stammten und deshalb dieses Problem nicht hatten - so nette Vorschläge wie, daß er mit seiner Frau doch ein paar mehr Kinder zeugen und die zusätzlichen Babys an Versuchsanstalten verkaufen solle, um das Leben der anderen zu finanzieren. Er hat danach nie wieder öffentlich über seine Familie geschrieben.
"Ich weiß, was das für dich bedeutet. Aber mir ist einfach nichts besseres eingefallen. Und du willst doch leben, oder?" sagte er.
"Ja. Ich will jetzt leben. Hast du jemals überlegt, warum vier von uns zehn Zentauren so jung gestorben sind?"
"Sie hatten eine schwache Gesundheit. Das ist häufig bei Wesen, die in der ersten Generation durch Gentechnik erzeugt wurden."
"Für mich sieht es aus, als hätten sie vier der zehn Methoden ausgeführt, die mir eingefallen sind, als ich überlegt habe, wie ich Selbstmord begehen könnte, ohne daß man mich wieder ins Leben zurückrufen kann. Mehrere aufeinanderfolgende unauffällige Selbstmordversuche führen selbstverständlich zu einer schwachen Gesundheit. Ich bin nicht dazu gekommen, weil ich vorher eine wunderbare Reitlehrerin kennengelernt habe. Aber in den Jahren im Regenerator, hätte ich Selbstmord begangen, wenn mir ein Weg eingefallen wäre."
Als ich seinen verletzten Gesichtsausdruck sah, mußte ich lächeln.
"Weißt du - einer meiner Hintergedanken, als ich darauf bestand, daß Tiana das Buch zu Ende schreibt, war, daß vielleicht jemand es lesen würde, der mich kaufen und mir damit das Leben retten würde. Ich wollte mich nicht beschweren, daß mein Plan aufgegangen ist. Mir fehlte nur die Hoffnung. Als deine Leute mich abgeholt haben, dachte ich, ich würde jetzt seziert."

Der neuerliche Ausdruck von Entsetzen auf seinem Gesicht bewog mich das Thema zu wechseln:
"Wann kann ich mit der Arbeit anfangen?"
"Morgen. Oder, wenn du noch etwas Zeit brauchst, kann ich dir auch noch eine Woche Erholungsurlaub verschreiben lassen." antwortete er.
"Mir wäre Morgen lieber. Solange ich die Arbeit dazu nicht mache, kann ich nicht glauben, daß ich wirklich stellvertretender Leiter bin." erklärte ich.
"Gut. Ich führe dich morgen früh in die Arbeit ein. Danach ist eine psychologische Überprüfung angesetzt. Es heißt, daß niemand drei Jahre Organspenden überleben kann, ohne wahnsinnig zu werden. Deshalb will unser Psychologe den Gegenbeweis mit eigenen Augen sehen, bevor er bereit ist, es zu glauben. Und was deine zukünftigen Kinder angeht - wenn du bereit bist, ihnen eine Schulausbildung zu finanzieren, kann ich mir sicher ein Konzept einfallen lassen, das beweist, daß es sich lohnt, jedes von ihnen 10 Jahre hier zu behalten. Dann bekommen sie die Chance eine richtige Berufsausbildung zu machen. Ich mache dir bis morgen einen Vorschlag."
Ich begann vor Freude zu lächeln. Wirklich frei war nur das reichste Prozent der Bevölkerung. Alle anderen waren Sklaven. Wer es sich leisten konnte, kaufte seine Frau für die Zeit frei, in der seine Kinder geboren wurden und heranwuchsen und gab ihnen eine Schulausbildung, weil das die Voraussetzung dafür war, sie in eine Berufsausbildung verkaufen zu können. Wenn dieser Vorschlag genehmigt würde, hätten meine Kinder später so gute Chancen wie Menschen der gehobenen Mittelschicht. Das war besser, als ich jemals zu träumen gewagt hätte.
"Ich glaube, ich werde wirklich gerne mit dir zusammenarbeiten." sagte ich ihm.

Gats, Leiter von Dulitz:
Nach dem Gespräch mit dem Zentauren war ich beunruhigt. Er wirkte auf mich gebrochen. Gar nicht mehr der stolze, zwischen Wut und Schmerz hin und herpendelnde junge Nichtmensch, als den ich ihn kennengelernt hatte.

Der Psychologe war jedoch anderer Ansicht, er meinte, es wäre unglaublich, wie gut der Zentaur die dreijährige Folter verkraftet hätte. Er hätte im Augenblick zwar wenig seelische Reserven - aber wer nach einem Jahr Folter noch nach Möglichkeiten sucht, Überlebenschancen, die er als praktisch nicht vorhanden einschätzt, ein wenig zu verbessern, indem er ein Buch zuendebringt, ist so schnell nicht kaputtzukrigen.
"Laß dich nicht täuschen, Gats: der Bursche plant schon längst, wie er das gesamte Forschungszentrum in seinem Sinne umgestalten kann. Er wird jedes Forschungsvorhaben schicksalsergeben akzeptieren, das er nicht von sich abwenden kann. Aber in zehn Jahren wirst du mehr Reformen zugunsten der Nichtmenschen und einfachen Sklaven durchgeführt haben, als du dir jemals hättest träumen lassen. - Und wirtschaftlich wird es sich lohnen." teilte mir der Psychologe mit.

Die folgenden Jahre, bewiesen, daß er recht hatte. Und Jorian wurde mir der beste Freund, den ich je gehabt hatte.

Kersti

Fortsetzung:
FE6. Kersti: Ich will nicht stellvertretender Institutsleiter sein...

Quelle

Erinnerung an ein eigenes früheres Leben.
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben