Ich sah sie an, und überlegte, wie es wäre, sie zu heiraten.
Ich stellte es mir sehr genau vor und merkte, daß sie dann als
Ausgestoßene leben müßte - das würde sie nicht
überleben. Sie war nicht so unsterblich wie ich und selbst für
mich war es ein sehr hartes Leben, was ich nur überlebte, weil ich
nicht sterben konnte, ehe mein Körper zu Staub zerfallen ist.
"Retia, ich weiß, wie sehr du mich liebst und das ist das
schönste, was ich in meinem Leben kenne. Aber wenn du mich
heiratetest, würde daraus kein Glück entstehen, weder
für mich noch für dich. Wenn du mit mir schlafen würdest,
könnte das dich nicht erfreuen - und es würde etwas in deinem
Körper zerstören, so daß du keine Kinder mehr
bekommen kannst. Du würdest mit mir gejagt und verfolgt - und bald
wäre ich dann Witwer und würde lange, lange um dich trauern,
denn ich kann nicht einfach sterben. Retia. Heirate den Mann, den deine
Eltern für dich erwählt haben, wenn er ein guter Mann ist.
Teile dein Leben mit ihm. Ich werde in der Nähe bleiben, mich an
deinem Glück freuen und dich regelmäßig besuchen. Davon
haben wir beide mehr."
Es dauerte lange, bis ich sie überzeugt hatte - aber sie heiratete -
und mich erfüllte bitterster Neid, wenn ich ihren Ehemann
beobachtete. Neid um sein friedliches, normales Leben. Neid, keine
Eifersucht, denn Retias Liebe, konnte er mir nicht nehmen. Genausowenig
wie ich ihm ihre Liebe nehmen konnte, die nach und nach in ihr keimte.
Jahre später - der Mann hatte sich längst daran gewöhnt, daß das Brennholz von alleine, fertig zerkleinert und sorgfältig gestapelt an der Hüttenwand auftauchte und daran, daß der Acker morgends gepflügt war und nur noch eingesät werden zu brauchte. Er hatte sich daran gewöhnt, daß seine Frau dem Geist des Waldes regelmäßig Brot brachte. Aber er hatte mich noch nicht gesehen. Sie bekam zwei Kinder, von denen ich mir immer gewünscht habe, sie könnten meine Kinder sein. Liebe Wesen, die mich kennen und lieben lernten.
Dann entdeckte ihr Mann mich, als ich gerade mit Retia sprach. Er stieß zuerst einen Ensetzensschrei aus, als er meine durch Narben verunstaltete leichenblasse Gestalt sah, dann griff er an, weil er glaubte, seine Frau sei in Gefahr. Retia warf sich im letzten Augenblick mit einen "Nein!" dazwischen. Entsetzt sah ich, daß der Schlag, der mir zugedacht war, sie traf. Sprang den Mann an, entwand ihm die Waffe und befahl ihm, mich wenigstens, wenn er sonst nichts vernünftiges zu tun wisse, jetzt ungestört heilen zu lassen. Dann heilte ich ihre Wunde. Er schaute ungläubig zu wie der tiefe Schnitt, an dem sie nur zu leicht hätte verbluten können, innerhalb von Sekundenbruchteilen zu einer scheinbar lang verheilten Narbe wurde. Es war sehr viel besser verheilt, als mir das bei meinen Leichenkörpern je gelungen war, denn sie lebte richtig.
"Bist du verletzt?" fragte ich den Mann.
"Nein. Nur ein blauer Fleck."
"Zeig her."
Ich erspürte die geplatzte Ader und verschloß sie. Ich hatte
wieder einmal viel zu hart zugefaßt. Mein Gefühl für
meinen Leichenkörper war einfach nicht differenziert genug, um feine
Handarbeiten tun zu können. Den Pflug ziehen konnte ich - oder
Holz hacken. Aber wenn ich jemandem nur sanft in die Hand nehmen wollte,
tat ich ihm immer weh. - Also lernte ich, Menschen niemals richtig
festzuhalten, wenn ich sie trug, nur den Arm so zu halten, daß sie
ausreichend Stütze hatten und ansonsten sie
selbst sich festhalten zu lassen.
"So, du Narr - du hättest sie beinahe umgebracht, weil du so
versessen darauf warst, mich umzubringen. Und ich wäre wieder
schuld gewesen... Ich hoffe, du hast daraus gelernt. Jetzt sei zumindest
so klug, diese Geschichte nicht im Dorf herumzuerzählen. Sonst wird
sich die Angst der Menschen vor mir nämlich gegen eure ganze
Familie richten." sagte ich.
Dann sah ich Retia wieder an und stellte zu
meiner Verwunderung fest, daß sie schlief.
Es war ein ganz normaler Schlaf - und
würde ihr sicher guttun.
"Bring sie in ihr Bett, damit sie sich ausschlafen kann." befahl
ich und ging.
Er hob sie hoch und trug sie ins Haus. Ich
wünschte, ich könnte auch schlafen. Auch
wenn ich mich selbst nicht erinnern konnte,
jemals geschlafen zu haben.
Zum Schweigen war er nicht klug genug. Er erzählte es im ganzen Dorf herum.
Zwei Tage später kamen die Erwachsenen
des Dorfes zur Hütte, umzingelten sie und
holten Retia und ihren Mann heraus. Ich
war mit den Kindern im nahen Wald, befahl
ihnen, sich zu verstecken und rannte dann
zum Haus hinüber. Doch ich war nicht
schnell genug. Sie waren längst tot, als ich
ankam und die Menschen schreiend vor mir
davonrannten. Zwei zerfetzte Leichname, deren Besitzern ich gewiß
keinen Gefallen getan hätte, wenn ich das wieder zusammengeflickt
und sie zurückgerufen hätte. Es hätte zuviele Schmerzen
für den Rest ihres Lebens bedeutet. Ich brach zusammen und
weinte, weinte bis die Kinder mich schüttelten. Einfach nur
berühren hatte nichts gebracht, weil meine Wahrnehmungen dieses
Körpers nicht fein genug waren, daß ich es bemerkt hätte.
Dann sah ich sie an.
"Ich bin Schuld. Wegen mir sind sie jetzt tot." sage ich.
Die Kinder versichterten mir, daß ich nicht schuld bin.
"Du hast ja die bösen Leute vertrieben."
Irgendjemand mußte sich um sie kümmern. Also brachte ich sie zu ihren Großeltern in dem Dorf, in dem Retia aufgewachsen war. Ich achtete darauf, daß mich niemand sah und brachte ihnen nach und nach alle Vorräte aus der Hütte ihrer Eltern in das Dorf der Großeltern. Dort konnte ich aber nicht bleiben, weil sie mitten in einem Dorf lebten in dem ich nicht willkommen war. Also ging ich, nachdem ich den Kindern die Vorräte aus der Hütte ihrer Eltern gebracht hatte, wieder hinaus in die Wildnis.
Da ich mich immer noch am Tod der Retia schuldig fühlte, wagte ich nicht, wieder Kontakt mit Menschen aufzunehmen. Es könnte ja sein, daß ich jeden Menschen, den ich liebte mit ins Unglück reißen würde. Doch jedesmal, wenn ich Menschen sah, beneidete ich sie darum, daß jeder von ihnen eine Familie hatte, die ihn liebte und ich war ganz allein.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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