Das Nächste, was ich spüre, ist Schmerz. Ein Peitschenhieb. Aber
ich erlebe es nicht als etwas Schlimmes sondern einfach als so ein
"Huch, da ist ja etwas." Ich schaue hoch und mein Bruder steht mir
gegenüber. Früher konnte ich immer seine Gefühle
spüren, als wären es meine eigenen. Jetzt sehe ich nur noch sein
Gesicht und es erscheint mir leer. Ich fühle mich immer noch leer.
Nur die Schmerzen von den Peitschenstriemen auf meinem Rücken stechen
grell aus dieser Leere hervor. Ich finde das Gefühl der Schmerzen
interessant. Gleichgültig höre ich zu, wie mein Bruder etwas
sagt. Ich verstehe es nicht. Er nimmt wieder seine Peitsche und
schlägt zu.
"Dreh die Mühle." befiehlt er scharf.
Jetzt habe ich es verstanden. Doch mir fehlt der innere Antrieb, auch zu
gehorchen. Ich sehe ihn nur gleichgültig und stumpf an. Wieder
schlägt er, wieder und wieder und wiederholt mit jedem Schlag seinen
Befehl, bis ich aufstehe und schließlich doch tue, was er
sagt. Langsam fühlt sich mein Rücken nämlich
nicht mehr interessant, sondern unangenehm
an.
Ich nehme weder den Boden unter meinen Füßen, noch die Stange, an der ich ziehem muß, richtig wahr. Es reicht, daß ich einen Fuß vor den anderen setzen und diese Arbeit tun kann, solange jemand mit der Peitsche hinter mir steht, und mich immer wieder antreibt - aber es erscheint mir nicht richtig real.
Abends, nachdem er mich zu dem für mich vorgesehenen Strohlager gebracht hat - mein augenblicklicher Zustand macht ein Bett für mich eher zu etwas Schädlichem, weil es mir weniger Sinneswahrnehmungen beschert als ein Strohlager - zieht mein Bruder sich in sein Bett zurück und beginnt zu weinen.
Erst im Verlauf dieses Tages, wo er mit der Peitsche hinter mir hatte stehen müssen, ist ihm klargeworden, wie sehr er mir Unrecht getan hat. Und jetzt konnte er es nicht wieder gut machen.
Zur Vorgeschichte muß man wissen, daß sie vorher alles versucht haben, um mich irgendwie wieder zu erreichen und nichts hat gewirkt. Und Schmerz war dann das letzte Mittel, mich irgendwie ins Leben zurückzurufen.
Einige Tage später mußte mein Bruder und ich vor Gericht erscheinen. Zuerst wurde ich gefragt, was geschehen sei, aber ich habe nicht einmal die Frage mitbekommen sondern nur nebelhaft erahnt, daß da jemand mit mir spricht. (Ich beschreibe jetzt aus der Sicht meines Bruders, weil ich wirklich nahezu nichts mitbekommen habe.)
Mein Bruder sagte: "Darf ich für meinen Bruder sprechen, denn ich bin dafür verantwortlich, daß er jetzt in diesem Zustand ist." Das wurde ihm erlaubt und er hat dann meine Tat berichtet, so gut er es herausgefunden hatte.
Ich merkte, daß von ihm irgendetwas Freundliches ausging und habe ihn umarmt. Er hat die Umarmung erwidert und mich gestreichelt, heilfroh, daß ich das erste mal nach seinem Angriff auf mich auf ein Gefühl reagiert hatte. Verstanden aber hatte ich nichts von seinen Worten.
Das Urteil, was sie sprachen war, daß ich keinen Schaden mehr anrichten könne, so zerstört wie mein Geist sei. Deshalb würden sie dem, was ich an Schicksal auf mich gezogen hätte, nichts hinzufügen und nichts entfernen. Aber ich würde in eine einsame Gegend verbannt und müßte dort für den Rest meines Lebens als Einsiedler leben.
Ich verstand die Worte des Urteils nicht, noch hatte ich Erinnerung wer ich vorher gewesen war und was ich gewollt hatte. Doch mein Bruder stand auf und sagte, nach dem Gesetz stünde mir ein Begleiter zu, der bereit sei, mein Exil mit mir zu teilen. Er sei für meine Gefangennahme verantwortlich, also wolle er mich auch ins Exil begleiten. Also wurden wie gemeinsam an eine einsame Meeresküste gebracht.
Der Glaube der Menschen, die mich ins Exil geschickt hatten, erwies sich als Irrtum. Es gelang mir meinen Geist wieder zu etwas ganzem zusammenzufügen. Doch das Land, das ich durch meine Arbeit hatte schützen wollen, wurde zerstört.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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