Mein letzter Schüler

Ich erwachte durch einen Traum. Seine eindringlichen Bilder blieben mir klar im Gedächtnis. Sie waren so realistisch wie das Zimmer, in dem ich erwachte. Ich stand auf, nahm meine Kleidung und ging hinaus zum Bach. In Gedanken versunken führte ich die rituellen Waschungen durch, an die ich von Kindheit an gewöhnt war. Dann wandte ich mich nach Osten und beobachtete, wie der tiefschwarze Himmel mit seinen silberhellen Sternen dort langsam heller wurde und sich rot färbte. Die Sonnenaufgänge hier im kalten Norden hatten eine fremdartige, blasse Schönheit, ganz anders als in meiner südlicheren Heimat. Ich setzte mich unter einen Baum. Mehrfach ging ich die Traumerlebnisse nachdenklich durch. Gefangennahme, abgeführt werden, mein Tod. Gab es eine Möglichkeit, dieser Erfahrung auszuweichen? Die Bilder waren bruchstückhaft, gaben keine Hinweise auf den Ort des Geschehens, waren aber zu realistisch - ein Wahrtraum. Ich fand keinen Ausweg. Ich trauerte um die Menschen, die ich würde verlassen müssen.

Schweigend genoß ich eine Weile die Schönheit des Sommermorgens, ehe ich mich schließlich dem Herrenhaus zuwandte. Der Fürst öffnete gerade die Tür, sah mich und sein stilles Begrüßungslächeln strahlte seine Freude, mich zu sehen und die Verehrung aus, die er für mich hegte. Es hatte in meinem Leben eine Zeit gegeben, als ich einen Menschen ebenso verehrte. Jesus. Ich lächelte meinem Schüler zu und sagte:
"Ich muß dir etwas erzählen Geroid."
Er war neugierig, sagte aber nur:
"In meinem Arbeitszimmer können wir uns in Ruhe unterhalten, Simon."
Ich nickte. Er wäre nie darauf gekommen, daß ich über meinen Tod sprechen wollte. Dazu war ich zu heiter. Ich folgte ihm in den kleinen Raum. Wir setzen uns und Geroid beruhigte seine Neugier zu einer aufmerksamen, offenen Haltung, bei der es sich gut reden ließ. Ich nickte ihm zu. Langsam lernte er, seine Gefühle zu beherrschen.
"Ich hatte einen Wahrtraum." sagte ich und erzählte ihn in allen Einzelheiten. Die Geschichte war ein Schlag für ihn. Lächelnd wartete ich auf die entsetzte Frage, die kommen mußte:
"Und was machst du jetzt, Simon?"
"In einer halben Stunde breche ich auf nach Gereine ... " ich zählte heiter meine Pläne für die nächsten Tage auf. Man könnte das boshaft nennen: Er sorgte sich um mich und ich machte mir einen Spaß daraus.
"Aber sie werden dich umbringen!" protestierte Geroid.
"Ja. Heute - oder morgen, vielleicht auch in zwei Wochen oder einem Jahr, wer weiß? Wollte ich mich davor verstecken, müßte ich mich für den Rest meines Lebens von allen Tischen fernhalten. Wer weiß, ob das hilft? Der Traum ist zu vage. Ich weigere mich, die Arbeit aufzugeben, die ich als meine Berufung gewählt habe. Ich werde weiterhin die Lehre Jesu verbreiten, so weit ich sie verstanden habe."
"Aber du bräuchtest dich für deine Reden wenigstens nicht mehr auf einen Tisch zu stellen!"
Ich lachte:
"Dadurch brauchen die Bewaffneten zehn Minuten länger, um mich zu finden und abzuführen."
Geroid war unglücklich. Er hätte mich am Liebsten an die Kette gelegt.
"Geroid. Der Tod ist nichts Schlimmes. Er ist, als würde man schlafen. Man hält sich auf einer höheren Wirklichkeitsebene auf, die man sonst nur in Träumen besucht und kommt später in einem neuen Körper als Baby auf die Welt. Es ist menschlich, traurig zu sein, wenn das Leben nicht so läuft, wie man es sich erträumt hat. Aber das Leben geht weiter und ist auch lebenswert, wenn alles anders läuft."
Geroid weinte lange. Ich nahm ihn in die Arme, tröstete ihn. Als er sich wieder gefaßt hatte sagte er:
"Aber ich will nicht, daß du jetzt schon stirbst, Simon!"
Ich brach in Lachen aus und rief:
"Jetzt SCHON? Geroid, ich bin ein uralter Mann!"
Er fand meine Heiterkeit nicht passend. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, verabschiedete mich und ging nach Gereine.

Wir beide ahnten, daß wir uns in diesem Leben nicht wiedersehen würden.

Nach einem netten Plausch mit dem Wachhabenden am Tor und einem Frühstück mit dessen Familie ging ich auf den Marktplatz. Dort stieg ich auf einen Tisch, damit mich alle gut sehen konnten. Ich schloß die Augen und sammelte mich, um aus dem inneren Licht heraus reden zu können. Ich würde über den Tod sprechen. Plötzlich entstand Unruhe. Ich sah mich um: Bewaffnete hatten längst alle Zugänge zum Marktplatz abgeriegelt. Selbst die Haustüren besetzten sie schnell mit Wachen. Sie zeigten auf mich und redeten miteinander. Noch ließen sie Marktfrauen, Städter, Kinder und Menschen, die gekommen waren, um mich zu hören, ungehindert ziehen. Ich hatte keinen Zweifel daran, daß sich das schnell ändern würde, falls ich von meinem Tisch spränge. Ich sah keine Fluchtmöglichkeit, zumal ich nie kämpfen gelernt hatte und deshalb nicht einmal gegen einen einzelnen Bewaffneten angekommen wäre. Ich sah unbeweglich zu, wie die Menschen versuchten, sich möglichst schnell in Sicherheit zu bringen und dabei Marktstände umwarfen. Die Bewaffneten kamen auf mich zu und richteten die Spitzen ihrer Speere auf mein Herz. Ich betrachtete sie aufmerksam und nachdenklich. Ja, das war die erste Scene aus dem Traum. Diesmal würde ich mit ruhigen, freundlichen Worten nichts ausrichten können, sonst hätte ich schon öfter von meinem eigenen Tod träumen müssen. Ich hielt Rückschau auf mein langes, erfülltes Leben und lächelte versonnen.
"Fesselt ihn." befahl der Anführer.
Ich legte meine Hände auf den Rücken und ließ es geschehen. Dann ließen sie mich von Tisch springen.
"Warum grinst du so frech?" fuhr mich der Hauptmann barsch an.
Ich lächelte ihm herzlich zu und antwortete:
"Ich habe das vorhergesehen. Ich habe meinen Tod gesehen."
Der Mann wurde sofort freundlicher:
"Und warum lächelst du dann?"
"Ich habe über mein Leben nachgedacht und bin mit der Arbeit zufrieden, die ich geleistet habe." antwortete ich.
"Du müßtest mich hassen."
"Würde mir das helfen?" fragte ich amusiert.
"Nein, aber..." er brach ab.
"Sieh mal, wenn ich dich haßte, würde ich mich schlecht fühlen. So führe ich eine nette Unterhaltung."
Er band mich am Sattel fest und ritt durch das offene Tor hinaus. Ich lief federnd neben dem Hals des Pferdes her und bewunderte die friedliche Schönheit des Landes im Sonnenschein. Ein Adler schwebte weit über uns. Ich sagte:
"Sie mal, ein Adler."
"Adler fressen Fleisch. Verachtest du sie nicht?" fragte der Hauptmann.
"Nein. Das ist seine Art. Man darf Tiere nicht nach Regeln beurteilen, die für Menschen richtig sind."
"Und es ist nicht unsere Art, Fleisch zu essen?" fragte er spöttisch.
"Nein. Es ist ungesund. Menschen altern davon schneller."
"Du siehst auch nicht gerade jung aus. Wie alt bist du denn?"
"Ich weiß nicht genau. Über hundert."
Der Mann verstummte, da er mich für wesentlich jünger gehalten hätte. Ich schmunzelte. Nach einigen Minuten stellte er die nächste Frage:
"Man sagt, du seist Christ und hättest Jesus selbst gekannt. Was war er für ein Mensch?"
"Jesus? Wir kannten uns schon als Kinder. Er war etwas jünger als ich. Doch spürte ich von Anfang an, daß er mir weit überlegen ist. Er wurde geradezu von seinem inneren Licht überstrahlt. Jesus hat als Erwachsener selten gelächelt. Doch wenn er lächelte, war es, als ginge die Sonne auf. Wahrscheinlich wäre jeder, der damals seinen Reden zugehört hat, gerne noch einmal mit ihm zusammen. Ach, die meisten sind wohl längst tot. Ich habe lange keinen meiner früheren Gefährten mehr getroffen. Ich habe sehr, sehr viel von ihm gelernt und alles hat sich als hilfreich erwiesen. Dennoch ist mir bewußt geworden und Jesus selbst hat mir bestätigt, daß auch er nicht unfehlbar ist und oft an der Richtigkeit seiner Entscheidungen zweifelt. Ich wäre nicht fähig, seine Gedankengänge nachzuvollziehen. Er ist mir himmelweit überlegen. Immer noch."
Bei dem Gedanken an Jesus erwachte Liebe und Sehnsucht in mir. Wie glücklich ich damals war! Ich glaube allerdings, daß Jesus nicht glücklich war. Die Aufgabe, die er übernommen hatte, indem er uns in jenem bürgerkriegszerissenem Land unterrichtete, ging sowohl körperlich als auch seelisch nahezu über seine Kräfte. In der kurzen Zeit, wo wir beide als kleine Kinder ohne Pflichten und Verantwortung in demselben Dorf lebtenl konnte ich ihn manchmal lachen sehen oder aus reiner Lebensfreude lächeln. Später als Erwachsener lächelte er nur, wenn er andere damit begrüßen oder trösten wollte.
"Jesus ist tot. Er wurde gekreuzigt." widersprach er mir.
"Ich weiß. Ich war dabei. Er hat die Kreuzigung überlebt. Ich habe nachher mit ihm gesprochen." erklärte ich.
Für uns Jünger war diese Erfahrung ein Schock. Jesus, der uns so oft vorgeführt hatte, wie man Gefahren durch ein Wort, eine Geste entschärft, daß wir ihn für nahezu unverwundbar hieltenl war plötzlich machtlos. Und wir konnten ihm nicht helfen. Er selber hatte es mit ruhiger Würde und sehr tapfer hingenommen. Er hatte wohl schon vorher ein viel realistischeres Bild von der Gefahr, in die seine Arbeit mit uns ihn brachte, als wir.

Mir war klar gewordenl warum ich diesmal von meinem Tod geträumt hatte. Bisher war ich jedesmal, wenn ich in Lebensgefahr schwebte, mit dem zusammengetroffen, der mich hatte töten lassen wollen und konnte ihn überzeugenl daß ich den Tod nicht verdient hatte. Der Hauptmann hatte nichts gegen mich. Er ffuuml;hrte einen Befehl aus. Er war dazu erzogen, auch Befehlen zu gehorchen, die ihm falsch erschienen. Eine schreckliche Geitesverwirrung, fand ich. Sie war typisch für Soldaten. Ich hätte nie etwas getanl was ich für falsch hielt. Wie kann man einem Menschen ganz schnell beibringenl für seine Handlungen selbst die Verantwortung zu übernehmen? Ich überlegte im Weitergehen.
"Du hast deinen Tod vorhergesehen. Hast du keine Angst?" fragte der Hauptmann.
"Neinf", antwortete ich fest, "Angst ist in so einer Situation absolut tödlich. Man kann nicht mehr richtig denken."
"Glaubst du, daß du überlebst?"
"Nein. - Ich hatte schon öfter ein Messer an der Kehle."
"Aber wer würde denn so etwas tun?" fragte er fassungslos. Er war niedlich. Beinahe hätte ich laut "Du." gesagt.
"Adelige, Räuber, Freiheitskämpfer, Bauernl römische Soldaten... es gab viele, die mich einmal töten wollten."
"Was hast du getan?" fragte er gespannt. Er konnte sich nicht vorstellen, was ein Unbewaffneter gegen ein Messer an der Kehle machen könnte.
"Ich habe mit ihnen geredet, bis sie ihre Meinung änderten."
"Und du glaubst, daß ich dich am Leben lasse?"
Meine ruhige, zuversichtliche Haltung verwirrte ihn.
"Nein. Das habe ich bei den anderen auch nicht geglaubt."
"Es ist dir doch sonst immer gelungen."
"Nichts funktioniert immer."
Ich spürte, daß er mir insgeheim zustimmte. Er war darüber sehr niedergeschlagen. Ich mochte ihn.

Ich habe mich auf diesem Weg sehr lange mit ihm unterhalten und ihm vieles von dem erklärt, was ich in meinem Leben von Jesus und anderen lernte.

Schließlich hielt er sein Pferd. Ich erkannte die Stelle wieder. Er zeigte auf einige Büsche und fragte zaghaft:
"Wirst du dort hinüber gehen, wenn ich es dir sage?"
Ich sah ihm stolz in die Augen und sagte:
"Das kommt darauf an."
Er gab seinen Männern einen Befehl und sie stießen mich grob dorthin. Ungestüm fuhr ich zu ihm herum, wollte ihm sagen, daß diese Grobheit bestimmt nicht zu seinen Befehlen gehört hatte. Im letzten Augenblick sah ich den Speer, der meine Brust durchbohrte. Die Wunde war tödlich, genau wie im Traum. Ich biß die Zähne zusammen, ging in die Knie und ließ mich zu Boden gleiten. Ich wandte mich nach innen, um die Schmerzen möglichst gut auszuhalten. Es würde nicht lange dauern. Jeder mühsame Atemzug tat weh, zerriß das verletzte Herz noch stärker. Es gelang mir, mich wieder zu entspannen und in meine Mitte zu kommen, ehe mein Körper endgültig tot war und mich freigab. Ich beobachtete den Hauptmann noch einige Sekunden, ehe ich fortging, um mein nächstes Leben zu planen.

Erschüttert starrte der Hauptmann meine Leiche an. Dann entdeckte er etwas, das ihn tröstete:
"Seht, wie friedlich sein Gesicht aussieht." sagte er zu den anderen Männern holte seinen Speer zurück, schloß zärtlich meine Augen und sagte:
"Er ist tapfer gestorben."

Dann befahl er, meine Leiche zu verstecken und mit Ästen abzudecken. In Gedanken verloren ritt er mit seinem Männern zurück zur Garnison und gab ihnen für den Rest des Tages frei. Er selber erstattete seinem Vorgesetzten Bericht. Danach sagte er:
"Tairo, ich will den Dienst quittieren. Es war Unrecht, diesen friedlichen, alten Mann zu töten."

Spät am Abend erreichte der ehemalige Hauptmann den Fürstenhofn Er klopfte. Der Fürst öffnete selbst und fragte:
"Was wollt ihr?"
"Ich habe den weisen, alten Mann umgebracht."
Der Fürst war verblüfft. Er hatte geahnt, daß der Fremde diese Nachricht brachte. Aber nicht, daß er selber der Mörder wäre. Jeder hätte geglaubt, daß Rache geübt würde. Woher nahm er den Mut, dennoch zu kommen?
"Komm herein. Ich muß mit dir reden." sagte der Fürst.

In seinem Arbeitszimmer erzählte er dem Fremden den Wahrtraum über meinen Tod. Der Fremde übergab ihm seine Waffen, kniete mit demütig gesenktem Kopf nieder und sagte:
"Ich habe Unrecht getan, als ich ihn tötete. Nimm meine Waffen, ich will sie nie wieder tragen."
"Und was soll ich jetzt mit dir tun?" fragte der Fürst.
"Der alte Mann hätte mir verziehen." antwortete der Fremde zaghaft.
"Das stimmt. Aber Simon hätte auch eine Möglichkeit gefunden, sicherzustellen, daß du dergleichen nie wieder tust." gab der Fürst zu.
"Das hat er - nur - leider einige Sekunden zu spät. Ich will alles von ihm lernen. Da er nun tot ist, komme ich zu dir."
Der Fremde zitterte. Er fürchtete, daß ihn sein eigenes Schwert treffen würde. Er fand, daß er diese Strafe verdient hätte.

"Steht auf, Fremder. Ihr dürft hier bleiben, wenn ihr wollt. Hier ist meine erste Lehre: Simon wäre an eurer Stelle nie niedergekniet. Als er einen Menschen getötet hatte - ein Unfall - ging er geradewegs zu meinem Vater, der vor einem Jahr noch lebte, sagte ihm, daß er einen Fehler gemacht hätte und erzählte mit seinem üblichen, guten Erzählstil die ganze Geschichte. Mein Vater ließ ihn auspeitschen, bis er die Besinnung verlor. Einige Tage später - Simon, mein Lehrer war durch die Strafe noch so geschwächt, daß er kaum aufstehen konnte - sagte mein Vater zu ihm:
"Wenn du nur einmal um Gnade gebeten hättest, hätte ich sofort das Ende der Strafe befohlen." Simon lachte.
"Da hättest du lange warten können! Wie gut, daß es dir reichte, als ich schließlich in Ohnmacht fiel."
"Warum bist du nicht geflohen?"
"Ein Unschuldiger wäre statt meiner bestraft worden. Ich bin der einzige, dem du geglaubt hättest, daß mir so etwas passieren kann."

Glaub mir, mein Gast, ich wäre nie bereit gewesen von einem Feigling zu lernen, daß Verzeihung etwas Gutes ist und man Feinde selbst dann lieben kann, wenn man im Interesse seines Landes gegen sie kämpfen muß." erklärte Geroid.

Der, der mich getötet hatte, wurde mit den Jahren zu Geroids engstem Berater und Freund. Er nahm nie wieder eine Waffe in die Hand. Ich schon.


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