Wie von selbst führten meine Füße mich den vertrauten Pfad
zum Kloster. Als die Sonne aufging, klopfte ich an der Pforte und sagte
gebieterisch:
"Ich muß die Äbtissin sprechen. Alleine."
Die diensttuende Schwester kannte mich und schmunzelte nur über meinen
bestimmten Tonfall, der so im Gegensatz zu den im Kloster üblichen
Umgangsformen stand. Ich konnte diese demonstrative Selbsterniedrigung, die
dort üblich war, noch nie leiden.
Die Äbtissin kam und begrüßte mich mit ihrem üblichen
gütigen Lächeln, dann schaute sie mich an und fragte
bestürzt, was denn mit mir geschehen wäre, ich sähe ja halb
verhungert aus. Ich lächelte.
"Ich habe die letzten drei Wochen gefastet. Mach dir darum keine Gedanken.
Aber jetzt brauche ich deinen Rat. Und ich muß dich bitten,
über das zu schweigen, was ich dir erzählen will."
Sie sah mich fragend und nachdenklich an. Ihr prüfender Blick schien
bis zum Grund meiner Seele zu dringen. Ich erwiderte ihren Blick und
öffnete ihr meine Seele. Ich fragte mich, ob sie feinfühlig genug
war, um sich bewußt zu sein, daß sie in meinen Geist schaute
und dort meiner Erinnerungen erforschte. Wahrscheinlich war es ihr nicht
wirklich bewußt. Das hätte sie mit ihrem kirchlichen Weltbild zu
sehr erschreckt. Nach Minuten des Schweigens nickte sie
schließlich.
"Ich werde Dir zuhören. Und du kannst dich auf meine Schweigen
verlassen. Aber ob ich Rat weiß, vermag ich nicht zu sagen.
Komm."
Sie führte mich in ihr kleines Zimmer und schloß die Tür
hinter uns. Dann begann ich zu erzählen, was in den letzten Wochen
geschehen war. Vollständig, nur die bürgerlichen Namen und
Herkunft der Hexen nannte ich nicht, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Die
Äbtissin hörte mir ruhig zu und nickte von Zeit zu Zeit. Ich
konnte spüren, wie meine Geschichte sie bis ins Mark erschreckte.
"Ich dachte, es gäbe keine Menschenopfer mehr." sagte sie
schließlich.
"Das dachte ich auch. Sonst hätte ich mich nie mit ihnen abgegeben."
sagte ich und gegen meinen Willen begannen die Tränen wieder zu
fließen.
"Und was machst du jetzt?" fragte sie leise, sanft, mitfühlend.
"Ich weiß es nicht." antwortete ich.
"Wenn du magst, bist du hier willkommen." sagte sie.
"Für heute Nacht nehme ich das an. Ich weiß noch nicht, was ich
dann tun werde." antwortete ich.
Ich blieb lange im Kloster, arbeitete dort mit. Beriet die Kräuterfrau in heilkundlichen Dingen und die Äbtissin nahm sich jeden Tag ein wenig Zeit für mich, um mit mir zu reden. Ich lebte in einer merkwürdig zeitlosen Welt, in der nur der Augenblick und der zeitlose Friede des Klosterlebens zählten.
Nach Monaten erst verblaßte die grausame Unmittelbarkeit der Erinnerungen an das Opfer und ich konnte wieder an Vergangenheit oder Zukunft denken ohne schier darunter zusammenzubrechen.
Und ich brachte ein Kind zur Welt, ein Mädchen, Gaivins Tochter. Ich
nahm sie nach der Geburt in die Arme, schaute in das kleine Gesicht und sah
- Mongolenfalten in den Augenwinkeln. Eine Zunge, die zu dick für den
kleinen Mund zu sein schien. Ich suchte und fand alle Anzeichen von der
Krankheit, die in einem technischen Zeitalter Trisomie 21 genannt werden
würde. Ich drückte das Kind, strich ihm sanft über das Haar,
hob den Blick zur Hebamme und sagte ganz ruhig:
"Die alten Druiden hätten sie ausgesetzt."
Das war allerdings, bevor die neuen Pflüge eingeführt wurden.
Damals hätte der Stamm es sich nicht leisten können, kranke
Kinder, die niemals eine nützliche Aufgabe im Stamm übernehmen
konnten.
"Aber warum denn, es ist doch alles dran!" fragte die Frau überrascht
und bestürzt.
Sie war eine Unwissende.
"Sie ist schwachsinnig." antwortete ich.
Dann erklärte ich der Frau die Zeichen, an der man es erkennen
konnte.
Ich betrachtete das Kind und fragte mich, ob sie zu viel von dem mitbekommen haben mochte, was an dem Tag, an dem sie gezeugt wurde, geschehen war. Es mochte vielleicht auch daran liegen, daß ich unterernährt gewesen war. In Hungerzeiten treten solche Krankheiten gehäuft auf. Und ich fragte mich, warum sie sich entschieden hatte, trotz dieses Schadens zu leben. Die meisten kranken Kinder sterben noch im Mutterleib. Und die, die überleben, haben kein leichtes Leben. Meist werden sie von der eigenen Mutter herzlos behandelt. Hin und hergeschubst und als Teufelskinder beschimpft. Früher hatte man solche Kinder sofort ausgesetzt. Entweder nahm eine Gemeinschaft ein Kind bei der Geburt auf - und das ohne wenn und aber, oder es wurde ausgesetzt und hatte einen leichten Tod. Heutzutage läßt man die Kinder am Leben, doch nie werden sie wirklich in die Gemeinschaft aufgenommen. Immer verspottet und mit Steinen beworfen. Das ist Unrecht.
Nun, zumindest für mich würde sie einfach nur meine geliebte Tochter sein. Ich küßte das Kind auf die Stirn und hieß es in der Welt willkommen. Ich war sehr traurig.
Die Äbtissin kam herein, warf einen kurzen Blick auf mein Kind. Sie
erkannte es sofort, wie ich an ihrem bestürzten Gesichtsausdruck sah
und sah mir dann gerade und prüfend in die Augen.
"Wirst du ihr Mutter sein?" fragte sie leise.
"Sie ist meine Tochter." antwortete ich entschieden.
Sie nickt ernst. Ich hielt das Kind schützend in den Armen. Es begann meine Brust zu suchen. Ich ließ es trinken.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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