Hochsensibilität als Hauptursache der Autismussymptome
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In den beiden Erfahrungsberichten, bei denen ein zunächst schwer autistisch gestörtes Kind letztlich zu einem gesunden Erwachsenen heranwächst, spielt die Notwendigkeit, das Kind vor Reizüberflutung zu schützen und auf seine vom Durchschnitt abweichenden Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen dann auch eine erhebliche Rolle bei der Planung der Therapie durch die Eltern13., 14.. Das Vierte Kapitel von
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Kaum lag die Bettwäsche nicht mehr auf der nackten Haut, waren die Schmerzen weg
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Zahlenkaiser: Die Stimme des Lehrers hat mir buchstäblich wehgetan
Wenn unwichtige Reize sich zu sehr vordrängeln
Wie sich das im sozialen Bereich auswirken kann, wird in folgendem Beispiel deutlich:Beispielgeschichte, Kersti:Das aufdringliche Daumen-Hoch-Plakat
Ich stieg aus dem Zug und setzte mich neben eine andere Person auf den Bahnhof. Neben der Bank, auf der ich saß, befand sich eine Plakatwand, auf der eine Person mit einem überdimensionalen Daumen-hoch-Geste abgebildet war. Der Daumen war von meinem Standpunkt aus ungefähr an einer Stelle zu sehen, wo ich den Daumen meines Nebenmannes gesehen hätte, wenn er eine Daumen-Hoch-Geste gemacht hätte.Ich nahm mein Handy und beschäftigte mich mit den Bildern, die ich im Urlaub gemacht hatte. Plötzlich schaute ich auf, weil ich den Eindruck hatte, daß mein Nebenmann etwas von mir wollte. Doch das war nicht der Fall, er hatte einfach irgendeine neutrale Bewegung gemacht, so daß sich die Hand auf dem Plakat relativ zu ihm bewegt hatte, so saß ich das Gefühl hatte er hätte eine Daumen-hoch-Geste gemacht, obwohl diese Geste nicht zu ihm gehörte, sondern auf dem Plakat war.
Ich versuchte mich erneut mit dem Handy zu beschäftigen, doch ehe ich damit weit gekommen war, fühlte ich mich wieder von der Seite angesprochen, sah hin und stellte fest, daß es wieder nur dieses bescheuerte Plakat war.
Ich hielt das Handy so, daß ich etwas von dem Plakat wegsah, doch hatte ich Sekunden später schon wieder das Gefühl, mein Nebenmann wolle mich ansprechen, dabei hatte er sich nur ein wenig bewegt und ich kann ihm ja schließlich nicht das bewegen verbieten, damit ich mich nicht ständig aus meiner Beschäftigung rausgerissen fühle, weil das Daumen-hoch-Plakat mir bei jeder Bewegung die er macht das Gefühl vermittelt, daß er etwas von mir will.
Mein Nebenmann stand auf. Einige Minuten war der Platz frei und ich entspannte mich etwas, weil mich nicht ständig eine völlig bedeutungslose Bewegung meines Nachbars aus meiner Beschäftigung riß.
Dann setzte sich eine Frau auf den Platz zwischen Plakat und mir und wieder wurde ich alle paar Sekunden aus meiner Beschäftigung gerissen weil die Daumen-hoch-Geste mir bei jeder völlig unschuldigen Bewegung das Gefühl vermittelte, die Frau wolle etwas von mir. Ich war langsam ernsthaft genervt.
Vor allem war ich genervt, weil ich nirgendwo einen Ausschaltknopf finden konnte, schließlich wußte ich doch daß dieses bescheuerte Plakat da hängt und daß ich deshalb so reagiere!
Meine Reaktion konnte nicht normal sein, denn wenn sie das wäre, würden solche aufdringlichen Plakate innerhalb von kürzester Zeit wieder abgehängt, weil sich dauernd Leute beschweren würden. Leider wußte ich aus Erfahrung, daß ich mich gar nicht zu beschweren brauchte, wenn mich etwas stört, weil die Leute mir dann nur erklären, daß es solche Wahrnehmungen, wie ich sie zu haben meine, eigentlich gar nicht gibt und deshalb würde ich mir das nur einbilden. Diese Antwort ist absurd, denn natürlich ist Wahrnehmung definitionsgemäß eine innere Reaktion (=Einbildung) auf ein äußeres Ereignis. Und wenn das Gehirn ein wenig anders funktioniert, kann die innere Reaktion natürlich anders sein, auch wenn der äußere Reiz derselbe ist.
Sozialer Rückzug um Überlastungssituationen zu vermeiden
Wenn ihm die Anpassung besser gelingt, zeigt sich vor allem, daß Reizüberflutung zu vermeiden sucht indem er Leute nicht ansieht und soziale Kontakte auf ein geringeres Maß als üblich beschränkt. Andererseits führt die Überflutung mit Sinneswahrnehmungen und Gefühlen aber häufig zu einem unterschiedlich stark ausgeprägen sozialen Rückzug. In seiner Extremform verdrängt der Autist alle Gefühle und versucht weder Gefühle von anderen wahrzunehmen noch selber welche zu fühlen. Mit diversen ritualisierten Trickes, versucht er seinen Körper auf einen Zustand einzuschwingen, der keine massive Überforderung darstellt. Das ist der Autist der sozial nicht erreichbar ist, der nicht sprechen kann und extrem auf Ordnung besteht und Musik und das drehen von Gegenständen verwendet, um sich in einen entspannten Zustand zu bringen.Soziale Probleme, weil man Dinge unmittelbar wahrnimmt, die das Gegenbüber leugnet
Während bei ADHS Konzentrationsstörungen durch erzwungene oder durch die Umstände (z.B. Schule) aufgezwungene Reizüberflutung im Vordergrund steht, stehen bei Autismus und Asperger zwischenmenschliche Probleme, weil der Betroffene aus seiner Hypersensibilität heraus die Welt so anders wahrnimmt, daß er einerseits nicht versteht, warum seine Mitmenschen erwarten daß man seine Gefühle ausspricht, statt sie zu spüren. Auf Reizüberflutung reagiert er mit langanhaltendem schrillen Geschrei. Viele soziale Konventionen sind ihm unverständlich, weil der zu deutlich sieht, was beim anderen los ist. Warum muß ich andere grüßen, wenn man doch auch so merkt, ob ? Warum muß ich Gefühle mitteilen, wenn man das doch spürt? Warum leugnen die Leute Gefühle und Gedanken, die sie doch offensichtlich haben und man muß auf etwas ganz anderes reagieren, das völlig unklar ist. (Klar, wenn man das Gesicht nicht anschaut, sieht man den Gesichtsausdruck auch nicht.)
Quellen
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Barry Neil Kaufman (Aus dem Amerikanischen von Ursula Locke):
B21.1 Ein neuer Tag Wie wir unseren autistischen Sohn aus seiner Einsamkeit befreiten. (1993) Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe. ISBN 3-404-61255-8
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Gunde Kottenrodt:
B21.2 Kristall- und Sternenkinder. Meine Erfahrung mit Autisten- und Asperger-Kindern. (2012) United P. C. Verlag ISBN 978-8490156520
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Temple Grandin,
Richard Panek:
B21.4.2 The Autistic Brain. Exploring the strength of a different kind of mind. (2014) London: Rider Books, ISBN: 978-1-846-04449-6