vor 26.2.01
"Guten Tag. Womit kann ich euch dienen?" fragte ich freundlich
- und ein wenig überrascht. An Polizei auf dem
eigenen Grundstück war ich nicht gewohnt.
"Tu nicht so dumm! Du weißt schon, wofür du bestraft
wirst."
Sie richteten ihre Waffen auf mich und forderten mich auf, zur Wand zu gehen, mit dem Gesicht zur Wand dort zu warten, damit sie mich durchsuchen und fesseln konnten.
Ich sah verwirrt in das fellbedeckte Löwengesicht des Polizisten und traute meinen Augen nicht. Es mußte ein Irrtum sein. Aber - die Löwen waren eindeutig nervös, so als wäre ich nicht der friedliche, kleine, menschliche Geschäftsmann, der eine Firma mit einigen Angestellten leitet, sondern irgendjemand wirklich Gefährliches. Es lag eine Spannung in der Luft, die es mir geraten erscheinen ließ, nicht zu warten, bis einer von ihnen die Nerven verliert und schießt. Zumal ich als Mensch keine Waffen tragen durfte. Still ging ich zu Wand und begann zu grübeln.
Nein. Ich wußte nicht, wofür sie mich betrafen wollten. Nein. Ich hatte keine Verbrechen begangen, nichts Verbotenes getan. Nein. Ich hatte in meinem ganzen Leben niemanden bedroht, betrogen oder belogen. Zumindest wollte mir nichts dergleichen einfallen. Von Zeit zu Zeit hatte ich mich zwar gestritten - meist wegen irgendwelcher Mißverständnisse - aber nichts, wofür man jemanden Ärger bereiten würde. Ich hatte meine Untergebenen besser bezahlt und besser behandelt als üblich - und sie hatten mir das gedankt, indem sie besser arbeiteten. Ich kam gut mit meinen Kollegen aus. Kein Grund für Groll. Ein absolutes Rätsel.
Sie ketteten mir die Hände auf dem Rücken zusammen und
führten mich in ihr Polizeifahrzeug ab. Über meine Seele
hatte sich eine seltsame entspannte Ruhe gelegt. Fast so als wäre
das eine Situation, die ich schon oft erlebt hätte und mit der
ich umzugehen wußte. Doch eine Erklärung wollte mir nicht
einfallen.
"Wollt ihr mir wirklich nicht verraten, was mir vorgeworfen
wird?" fragte ich leise.
"Du bist ein Hüter des Lichts." sagte einer der
Löwen.
Zuerst starrte ich den Löwen nur verwirrt an. - Einer der
Verräter? Ich? Die Hüter des Lichts waren doch diejenigen,
die die Menschheit an die Drachen verraten hatten. Wie kam er denn
auf den Gedanken?
Dann stieg eine dunkle Ahnung in mir auf. Ja. Doch:
Ich erinnerte mich daran, wie ich eine Zeremonie geleitet hatte, mit
der ein neuer Hüter in unseren Kreis aufgenommen wurde.
Sätze, die immer und immer wieder wiederholt wurden: "Folge
deinem Gewissen und nur deinem Gewissen." "Das Licht ist das
Wesen Gottes. Es ist die Liebe. Bewahre und hüte es in deinem
Herzen." "Nicht was wir anderen Hüter dir sagen ist
Wahrheit. Was dein Herz dir sagt, mußt du tun." "Jedes
lebende Wesen trägt das Licht in sich. Und deshalb sind alle
heilig. Liebe ein jedes von ihnen um des göttlichen Lichtes
willen, ganz gleich was es tut, unabhängig von Rasse, Geschlecht
und gesellschaftlicher Stellung." "Die Liebe sei das Gesetz
deines Handelns."
Nur was konnte irgendjemand gegen Menschen haben, die nach diesen Gesetzen handeln? Damit war doch allen - ohne Ausnahme - gedient! Woher kam dieser Haß auf uns Hüter? Warum galten wir als Verräter?
Neue Bilder stiegen in meinem Geist auf, in denen wir verraten wurden, weil wir uns geweigert hatten, in einem Krieg mitzukämpfen. In denen Lügen über uns verbreitet wurden.
Wir waren angekommen - nicht im örtlichen Polizeihauptquartier,
wo ich mal einen meiner Lehrlinge abgeholt hatte, weil er in ein
Geschäft eingebrochen war. Es war ein viel größeres
Gebäude mit Hunden und hohen Mauern. Still stand ich auf und
folgte den Polizisten in den Keller des Gebäudes.
"Wo sind wir?" fragte ich schließlich.
"Im Planetaren Hauptquartier der Landessicherheit."
Ich nickte:
"Und was wird jetzt mit mir geschehen?"
"Zuerst schläfst du hier eine Nacht, dann finden drei
dreitägige Geistlesungen statt."
Bei dem Wort Geistlesungen krampfte sich mein Herz zusammen, so als
wüßte ich nicht nur theoretisch, daß das das
Schlimmste ist, was man einem Menschen antun kann, sondern als
hätte ich es selbst schon erlebt. Still nickte ich:
"Kann ich vorher meine Frau noch einmal wiedersehen?"
"Ja." antwortete einer der Polizisten.
Sie schlossen mich in einer winzigen sauberen Zelle ein. Beim Gehen sagte einer der Polizisten - der älteste
von ihnen:
"Es tut mir leid. Ihr Hüter seid immer so ruhig und friedlich,
wenn man euch gefangennimmt."
Ich sah ihn verwirrt an. Mit einer freundlichen Geste hatte ich nicht
gerechnet. So, als gäbe es so etwas eigentlich nicht. Er
drückte meine Schulter. Ich fing mich wieder, lächelte ihm zu
und sagte ruhig:
"Danke."
Ich war froh, daß sie mich alleine ließen. Ich brauchte diese ruhigen Stunden, um irgendwie meine Gedanken wieder zu ordnen, um die neuen Bilder zu intergrieren. Erinnerungen an Erfahrungen, an die ich ein ganzes Leben nicht mehr gedacht hatte. Seit meiner Geburt.
Ich war ein Hüter des Lichts und ich hatte das vor meiner Geburt vergessen, weil dieses Wissen mich in Gefahr gebracht hätte. Nun war es Zeit, daß ich mir all dieser Dinge wieder bewußt wurde.
Unser Ziel war es, daß alle intelligenten Rassen in Frieden miteinander leben und daß die Unterschiede von allen als Bereicherung betrachtet werden sollten, die sich gegenseitig ergänzen und zum Allgemeinen Nutzen angewendet werden. Dabei soll auf Dauer erreicht werden, daß absolut jeder einen Platz in der Gesellschaft erreichen kann, an dem seine besonderen Fähigkeiten zum Nutzen der anderen dienen und er sich seine Wünsche aus eigenen Kräften erfüllen kann.
Seit wir angefangen hatten, an diesem Ziel zu arbeiten, hatte sich im Reich der Löwen einiges verändert. Vorher waren Menschen, die als Kriegsgefangene in die Hände der Löwen geraten waren, rechtlose Sklaven gewesen, die zwar nicht mißhandelt wurden - Löwen neigen im Gegensatz zu Menschen nicht dazu, ihre Gefangenen zu mißhandeln - die aber auch keine Ausbildung erhielten und deshalb nur Hilfarbeiten leisten konnten. Jetzt konnten sie verschiedenste Berufe erlernen und ausüben. Das Löwenreich war dadurch reicher geworden, denn Menschen sind sehr anpassungsfähig und übernehmen deshalb bei anständiger Bezahlung auch gerne Funktionen, die von Löwen als unzumutbar empfunden würden. Was Löwen aber liegt, kann kein Mensch in vergleichbarer Qualität leisten.
In den anderen Reichen war unsere Arbeit durchweg schwieriger gewesen.
Im Menschenreich war es am schwierigsten, da die Menschen (nicht jeder Mensch aber sehr viele von ihnen) eine geradezu unglaubliche Arroganz gegenüber anderen Rassen an den Tag legten und meinten, sie wie Tiere behandeln zu müssen. Doch hatten sich auch dort die Verhältnisse gebessert. Immerhin war es jetzt kriegsgefangenen angehörigen anderer Rassen REIN THEORETISCH möglich, sich aus dem Besitz von Menschen freizukaufen, einen Beruf zu erlernen und damit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber nur die intelligentesten von ihnen hatten - viel Geduld, Ausdauer und Glück vorausgesetzt - eine reale Chance, wirklich einmal frei zu werden. Die meisten wurde wie Zootiere gehalten. Immer noch. Und das, obwohl wir dort viel häufiger zur Welt kamen und viel mehr taten um es zu ändern als bei den anderen Rassen.
Ein bißchen liegt es wohl auch daran, daß Menschen so anpassungsfähig sind und deshalb jede Position ausfüllen können. Für sie ist der Vorteil, den das Können anderer Rassen ihnen bieten kann, nicht ganz so groß.
Bei den Drachen - der intelligentesten Rasse des Universums, war es ebenfalls schwierig. Sie stuften nämlich jede andere Rasse als schwachsinnig und deshalb minderwertig ein. Doch sahen sie immerhin mit der Zeit ein, daß die nach ihren Maßstäben winzigen Menschen sehr nützlich sind, wenn es darum geht, kleine Maschinen zu bauen und zu benutzen. Und daß sie kompliziertere Arbeiten nur dann wirklich gut ausführen können, wenn sie die nötige Ausbildung erhalten. Und daß sie nur dann motiviert sind, das auch zu tun, wenn sie für ihre Arbeit einen angemessenen Lohn erhalten und ihn für ihre eigenen Ziele einsetzen können. Im Endeffekt geht es Menschen unter der Herrschaft von Drachen oft besser als unter der Herrschaft von Menschen. Und das, obwohl Drachen keine Sozialsysteme für Menschen aufbauen. Die wurden im Drachenreich als Versicherungen von Menschen für Menschen geschaffen.
Wir Hüter des Lichts sind sehr wenige. Wenn unsere Ziele den anderen nicht erstrebenswert erschienen wären, hätten wir nichts von dem erreichen können, was wir erreicht haben. Und deshalb war jetzt, da ich entlarvt war, meine wichtigste Aufgabe, den Leuten, die mich verhören sollten, so viel wie möglich über uns, unsere Arbeitsweisen und unsere Ziele zu erklären. Ihnen jede Frage so gut wie möglich zu beantworten. Nur wo die anderen jetzt lebenden Hüter arbeiteten, war geheim. Deshalb würde ich auch die Gedächtnislesungen widerspruchslos akzeptieren.
Was danach kam, würde schwierig sein. Die härteste Strafe, die es im Reich der Löwen gab. Aber aus meiner Sicht als Hüter des Lichts war das keine Katastrophe: Ich würde an den Ort kommen, wo meine Arbeit am dringendsten gebraucht wurde. Und ich würde versuchen, die Verhältnisse dort zum Besseren zu wenden. Für mich als Mensch war es viel schwieriger: von meiner Frau und den Kindern mußte ich mich verabschieden. Sie würden mich vermissen. Aber ich hatte immerhin so weit vorgesorgt, daß sie ohne mich keine Not leiden würden.
Und ich? Na ja, ich bin zäh. Ich werde mit allem zurechtkommen,
was die Zukunft mir bringt.
Jahre der Gefangenschaft
Garith, der Arzt wurde durch einen Summton von seiner Arbeit
aufgeschreckt. Eigentlich war er ja nur Sanitäter, aber hier nannte
ihn jeder den Arzt und er war der Ansicht seine Aufgaben so gut zu
erfüllen, wie es die beschränkten Mittel erlaubten. Er tat
gerade nichts, was nicht ebensogut eine Stunde später erledigt
werden konnte, also stand er auf und schaute nach, wo seine Hilfe
gebraucht wurde. Der Leiter des Gefängnisses rief ihn in den
Ankunftsraum. Also wieder ein Fehler in der Verschickung der Gefangenen.
Seiner Ansicht nach traten diese Fehler viel zu häufig auf. In einem
von hundert Fällen kam der Gefangene tot in dem Paket an, weil die
Betäubungsmittel, die ihn den Transport verschlafen lassen sollten,
zu hoch dosiert worden waren. Dauerschäden
durch Überdosierung waren noch häufiger.
Der Arzt eilte hoch, um zu helfen. Als er den Raum betrat, kniete der
Leiter des Gefängnisses vor der Kiste. Er blickte kurz zu dem
schmächtigen Arzt in der fadenscheinigen Sträflingskleidung
auf. Dann trat er zurück. Der Arzt kniete neben der Kiste nieder
und untersuchte den darin zusammengekauerten Menschen. Es war Kesrith. Er
war offensichtlich schon seit Stunden tot.
"Kannst Du etwas tun?" fragte der Leiter des Gefängnisses
beinahe flehend.
Der Arzt sah ihm in sein fellbedecktes Löwengesicht und
schüttelte still den Kopf.
"Er hat das einfach nicht verdient." sagte der Löwe leise.
"Nein. Er hat es nicht verdient." antwortete der Arzt ruhig und
dachte sich im Stillen, daß es vielleicht besser so war. Kesrith
hat so sehr gelitten in seinem Leben. Und nichts davon hatte er verdient
gehabt.
Die Gedanken des Gefängnisleiters wanderten zurück zu dem
Tag, an dem Kesrith in den Minen angekommen war, in denen die Gefangenen
arbeiteten. Er erinnerte sich wie er die Verschickungskiste geöffnet
hatte, nachdem die Aufwachzeit vorbei war. Das erste, was er gesehen
hatte, war der schwarze eintätowierte Stern auf der Stirn, der den
Gefangenen als Hüter des Lichts kennzeichnete. Er hob sofort den
Kopf, spuckte den Gas- und Frischluftschlauch aus, zog die Nadel zur
intravenösen Betäubungsmittelzufuhr heraus und sah ihn kurz
an - ein aufmerksamer, prüfender Blick mit einem angedeuteten
freundlichen Lächeln, dann ließ er seine Augen durch den
Raum wandern, schien jede Einzelheit in sich aufzunehmen und für
späteren Gebrauch abzuspeichern. Schließlich richtete er sich
endgültig auf, schüttelte sich, sah den Gefängnisleiter
kurz an und fragte mit einem strahlenden Lächeln:
"Guten Tag. Was wird jetzt mit mir geschehen?"
Der Gefängnisleiter hatte ihn verblüfft angesehen. Ein
Lächeln von einem Gefangenen, der gerade zu lebenslanger Arbeit hier
in den Mienen verurteilt worden war, hatte er noch nicht gesehen. Er
antwortete, indem er ihm schilderte, daß er wie jeder
Neuankömmling ohne medizinische Kenntnisse der gefährlichsten
Arbeit in den Minen zugeteilt war.
"Du wirst ja schon wissen, für welche Untaten Du mit dieser
Arbeit bestraft wirst." beendete der Gefängnisleiter
seinen Vortrag.
"Untaten? Ich? Nein. Ich werden nicht für das bestraft, was ich
getan habe, sondern für das, was ich bin." widersprach der
Gefangene.
Seine Miene und Körperhaltung drückten ein ruhiges
Selbstbewußtsein aus, kein Zorn, keine Angst.
"Red keinen Unsinn, es weiß doch jeder, was ihr Hüter des
Lichts für welche seid!"
"Du kannst es überprüfen. Du hast Zugriff auf meine Akten.
Schau nach. Wetten Du wirst absolut nichts finden, das man mir zur Last
legen könnte. Kein Verbrechen, keine Lüge." widersprach der
Mensch und seine Augen blitzten herausfordernd.
Damals hatte der Gefängnisleiter ihn ausgelacht. Aber diese Wette
ließ ihm keine Ruhe. Er schaute nach und fand - nichts. Nicht
einmal die kleinen Streiche die sich nahezu jeder Mensch in seiner
Jugend erlaubt, weil er nicht akzeptieren will, daß Löwen
die eigentlich höhere Rasse sind. Der Löwe fand, daß
diese Kinderstreiche im Grunde zu hart bestraft wurden.
Ein halbes Jahr später - der Gefängniswärter war gerade dabei eine Abteilung der Minen zu inspizieren - da kroch ihm ein halbverhungertes schwerverletztes Etwas vor die Füße. Der Gefängnisleiter gab sofort den Befehl, den Mißhandelten in die Klinik zu bringen und zu melden, sobald er ansprechbar war. Doch der Löwe erhielt keinen Bericht von dem mißhandelten Hüter des Lichts. die eine Seite des Gesichts war durch die Verletzungen so zerstört worden, daß er nicht mehr verständlich sprechen konnte.
Garith damals noch ein junger Sanitäter, der schrecklich einsam und verloren wirkte, war für die Pflege des Verletzten eingeteilt worden. Er berichtete voller Empörung, daß Kesrith völlig unterernährt gewesen sei und offensichtlich länger als einen Tag mit der Einlieferung in die Krankenstation gewartet worden sei, nachdem er so schwere Verletzungen erlitten hatte. Dem Gefängnisleiter hatte gefallen, daß der Sanitäter sich ehrlich um den Verletzten bemühte. Das war selten an diesem Ort, wo nur Schwerverbrecher hinkamen. Als der damals leitende Arzt starb, bevörderte der Löwe den Sanitäter zum Leiter der Krankenstation. Von da ab wurde dort erheblich bessere Arbeit geleistet.
Die meisten Menschen sind in Ordnung. Nur manche von ihnen haben einen Instinktdefekt, der dazu führt, daß sie ganz schrecklich grausam werden, dachte der Gefängnisleiter damals. Er hatte es beruflich mit dem Abschaum unter den Menschen zu tun, und konnte es oft nicht fassen, zu welchen Grausamkeiten Menschen untereinander fähig sind. Ein Löwe war vollkommen unfähig, dergleichen zu tun.
Vielleicht hatte er deshalb nicht begriffen, daß es nicht reichen würde, dem verantwortlichen Vorarbeiter eine Standpauke zu halten, ihm das so gesparte Essen vom Lohn abzuziehen und den Hüter des Lichts einer anderen Gruppe zuzuteilen. Jedenfalls wurde der Hüter ein halbes Jahr später noch ein zweites mal in einem noch schlimmeren Zustand eingeliefert. Und auch das hatte er überlebt.
Die nächsten Worte des Arztes riefen die Aufmerksamkeit wieder in
die Gegenwart:
"Was mir völlig unbegreiflich ist, ist woher Kesrith, damals,
als ich ihn kennenlernte, die Kraft genommen hat, auch noch zu
lächeln." meinte der Arzt leise.
"Ja. Es gab hier niemanden, der so schlecht behandelt wurde wie er.
Aber nahezu alle anderen hadern mit mit ihrem Schicksal. Nur er
lächelte und hatte gute Laune." antwortete der Löwe.
Dem Arzt war unrecht geschehen. Er hatte die Taten nicht begangen, die ihm von einem Vorgesetzten in die Schuhe geschoben worden waren und für die er hier ins Gefängnis gekommen war. Er fragte sich nun, was aus ihm geworden wäre, wenn er damals den Hüter des Lichts nicht kennengelernt hätte. Am Anfang war es dem Arzt geradezu unheimlich gewesen, wie der Hüter trotz allem, was ihm angetan worden war immer noch irgendwoher die Kraft nahm, für jeden, der Kummer hatte ein freundliches, ja geradezu fröhliches Lächeln übrig zu haben, so als würde all sein Leid, all das Unrecht all die Schmerzen, die er erlitt nichts bedeuten gegen die Schönheit des Lebens. Der Arzt hatte deshalb begonnen, über sich selbst und seine eigene Verbitterung nachzudenken. Ihm war bewußt geworden, daß es ihm nicht halb so schlecht ging wie dem Hüter - und wenn der Hüter des Lichts lächeln konnte, wenn man ihn halb verhungern ließ, wenn er nicht mehr sprechen konnte und zweiffellos ständig Schmerzen hatte, dann konnte der Arzt zweiffellos auch lächeln, wenn er all diese Probleme nicht hatte, nur zu unrecht ins Gefängnis eingeliefert wurde. Im Nachhinein fragte sich der Arzt, was aus ihm geworden wäre, wenn er Kesrith nicht als Vorbild gehabt hätte.
Nachdem der Hüter des Lichts ein zweites mal in einem derart üblen Zustand in das Krankenrevier eingeliefert worden war, hatte der Gefängnisleiter mit einem seiner Grundsätze gebrochen. Normalerweise ließ er Menschen und Löwen unter den Gefangenen nie zusammen in einer Gruppe arbeiten, weil Menschen körperlich viel empfindlicher sind als Löwen - andererseits aber durchaus fähig sind, einen Löwen so zur Weißglut zu bringen, daß er das vergißt. Anders ausgedrückt - wenn man menschliche und löwenartige Verbrecher in einer Gruppe zur Zwangsarbeit einteilte, gab es Mord und Todschlag, wobei Menschen ebenso wie Löwen umkamen. Dieser Hüter des Lichts hatte jedoch nicht einmal dann das Überleben, wenn man ihn mit Menschen zusammenließ. Und er hatte Kampfgeist. Vielleicht würde er zwischen Löwen eher überleben. Und - das hatte dann funktioniert. Der Mensch hatte zwischen den Löwen zwar immer wieder mal Schrammen abbekommen - aber im Endeffekt betrachtete seine Gruppe ihn dann als Maskottchen und er schien auch zufrieden zu sein.
Das allerdings war dem Löwen ein Rätsel: Wie kann ein Mensch zufrieden sein, ohne jemals Tageslicht zu sehen, den ganzen Tag nur harte Arbeit.
Dann - ein halbes Jahr später - hatte er die Anweisung bekommen, den Hüter des Lichts an den Geheimdienst zu schicken. Solche Befehle hatte er schon öfter erhalten und so wußte er, daß Gefangene, die in die Hände des Geheimdienstes gelangten, das nicht überlebten. Er hatte nachher die Berichte gelesen - sie waren oft über ein Jahr lang unausgesetzt gefoltert worden, bis sie zusammenbrachen und redeten. Als sie dann nichts mehr zu sagen wußten, hatte man wieder begonnen, sie zu foltern, bis sie starben.
Auf den per Lautsprecher ausgerufenen Befehl hin kam der Hüter des
Lichts sofort und sah ihn fragend an. Als der Gefängnisleiter ihm
mitteilte, wohin er geschickt werden würde, wurde sein
zerstörtes Gesicht schlagartig ausdruckslos, er richtete seinen
verkrüppelten Körper so weit auf, wie es das linke, durch die
Verletzungen steife Knie erlaubte und nickte.
"Es tut mir leid. Du hast so etwas nicht verdient." hatte der
Gefängnisleiter gesagt.
Da wandte der Gefangene ihm die gesunde Seite seines Gesichts zu - weil
auf der anderen Seite sein Gesichtsausdruck nicht zu erkennen gewesen
wäre, weil davon fast nur noch die Knochen übrig waren.
- Und er lächelte humorvoll und drückte der
Gefängnisleiter kurz den Arm.
Am Ende geschah das, womit der Gefängnisleiter am wenigsten
gerechnet hatte: Der Gefangene kehrte lebend zurück und war vom
Geheimdienst völlig geheilt worden. Solche Behandlungen zu
Wiederherstellung verlorener Körperteile waren so teuer, daß
praktisch kein Mensch sie sich leisten konnte. Der Gefängnisleiter
hatte ihn damals völlig entgeistert gefragt, wie so etwas
möglich sei. Er hätte nicht damit gerechnet, ihn lebend
wiederzusehen.
"Ich auch nicht. Bisher war es anders. Aber im Grunde ist es
völlig logisch. Die Pläne der Hüter des Lichts sind
für jede Rasse das Beste. Und deshalb haben wir uns entschlossen
jedem, der uns verhört, so viel wie irgend möglich über
uns, unsere Pläne und unsere Zielsetzungen zu erzählen."
"Aber ihr seid doch ein Geheimdienst!"
"Geheim ist nur die Identität der noch nicht entlarvten
Hüter. Alles andere wollen wir so vielen wie möglich
vermitteln.
Der Geheimdienst ist die Organisation der Reiches, die uns am Besten
kennt. Sie haben all unsere Aussagen gesammelt, sie haben alles über
unsere Arbeit vor der Entlarvung, sie wissen über jeden schon
gestorbenen Hüter bescheid. Sie haben überprüft, was wir
ihnen gesagt haben und es stimmte mit unseren Worten überein. Jetzt
wissen sie, daß wir ehrlich sind und sehen keinen Grund mehr, uns
etwas Böses zu tun."
"Aber kann es nicht sein, daß eure Führung euch
betrügt?" fragte der Löwe.
Da lachte der Hüter:
"Ich bin die Führung. Ich bin
einer der neun."
Das war alles zu unglaublich, um wahr zu sein. Und doch, der Gedanke ließ dem Gefängnisleiter damals keine Ruhe. Er wandte sich an den Geheimdienst und fragte nach - und dort wurde jedes Wort des Gesprächs bestätigt.
Danach setzte er den Hüter des Lichts als Vorarbeiter für eine Gruppe Menschen ein. Die ersten Tage weigerten sich diese zu arbeiten. Kesrith schien das jedoch keine Sorgen zu bereiten. Der Gefängnisleiter hatte erst ein halbes Jahr später vom Arzt erfahren, wie Kesrith diese Leute herumgekriegt hatte: Die ersten Tage hatte er sich einfach an den Tisch gesetzt, mit dem Argument, daß wer nichsts arbeite auch nichts zu essen brauche, gegessen und den Anderen nichts abgegeben. Was schon einige Kühnheit erforderte - denn er war ja allein und provozierte mit dieser illegalen Maßnahme eine Prügelei zehn gegen einen. Die Prügellei fand statt - er hat gewonnen und es gab keine behandlungsbedürftigen Verletzungen, nur ein paar blaue Flecken. Auch das war ungewöhnlich für Schlägereien unter diesem Abschaum der Menschen. Danach hatte er drei Tage tatsächlich allein gegessen, bis der erste anfing zu arbeiten. Danach gaben die meisten relativ schnell auf, die Arbeitsergebnisse der Gruppe kamen in den normalen Bereich - nur einer weigerte sich standhaft nachzugeben, bis Kesrith ihn schließlich nach 14 Tagen - er hatte sich beim Arzt erkundigt, wie lange er sicher davon ausgehen könnte, daß durch den Hunger keine Schäden entstehen würden - zum Mitessen einlud. Danach hatte die Gruppe die besten Arbeitsleistungen des Gefängnisses. Nach den Regeln bekam dadurch nur Kesrith etwas mehr Lohn, den er nach Belieben für ein paar Kleinigkeiten verwenden konnte. Was Kesrith bestellte, entdeckte der Gefängnisleiter jedoch alles bei seinen Leuten wieder, er behielt nichts für sich. Und - was eigentlich das auffälligste war - es war die einzige Gruppe, bei der gute Laune herrschte, wenn er vorbeikam, um zu schauen, ob alles in Ordnung war. Und die einzige Gruppe, die ihn einlud, sich doch dazuzusetzen und ein Glas Tee mitzutrinken, wenn sie gerade beim Essen waren.
Drei Jahre später wurde Kesrith dem Geheimdienst der Echsenwesen von der Regierung ausgeliehen. Die Echsenwesen galten als extrem grausam und gefühlskalt. Deshalb überraschte es den Löwen, daß Kesrith, als er es ihm erzählte, kaum zu reagieren schien. Sein Gesichtsausdruck wurde nur kurz ein wenig stiller und ruhiger, dann nickte er, verabschiedete sich mit einem warmen Lächeln und stieg ruhig in die Verschickungskiste. Als er drei Monate später wieder zurückkehrte, wirkte er abgehärmt und etwas stiller als vorher. Er tat aber seine Arbeit, als sei nichts geschehen.
Danach in dem Jahr entwickelte er einen jungenhaften Übermut, eine überschäumende Lebensfreude. Dabei blieben die Arbeitsleistungen seiner Grupee gleichbleibend auf dem höchsten Niveau der Gefängnismine.
Der Löwe konnte sich das lange nicht erklären. Bis er
irgendwann in einen Raum ohne zweiten Ausgang unversehens Kesrith
gegenüberstand, der ein Menschenkind auf dem Arm hielt. Zuerst
traute er seinen Augen nicht.
"Was ist das?" fragte er fassungslos.
"Ein Kind." antwortete Kesrith.
"Wie kommt das Kind hierher?"
"Du weißt doch, wo Kinder herkommen. Erst schlafen Frau und
Mann miteinander und dann wächst ein Kind im Bauch
der Frau heran." erklärte Kesrith grinsend.
"Aber die Verhütungsmittel..."
Alle gefangenen Frauen erhielten monatlich eine Verhütungsspritze.
"...haben wohl nicht gewirkt. Und eine Abtreibung wollte ich
verhindern." ergänzte Kesrith.
Ungläubig ließ der Löwe seinen Blick über den Mann
mit dem Kind auf dem Arm wandern. Kesrith wirkte ruhig und gefaßt.
So, wie vor der Verschickung zu den Echsen. Von Zeit zu Zeit strich seine
Hand sanft über das Haar des Kindes in seinen Armen. Das Kind war in
dem Alter, in dem Menschenkinder am niedlichsten sind.
"Wie alt ist das Kind?" fragte der Löwe schließlich.
"Morgen ein Jahr." antwortete Kesrith.
"Du weißt, daß ich dich nicht von einer Strafe verschonen
kann." erklärte der Gefängnisleiter entschuldigend.
"Ja. Ich habe vorher darüber nachgedacht. Mir war klar,
daß es weder möglich noch wünschenswert sein kann,
meine Tochter auf ewig hier zu verstecken. Es wäre unfair ihr
gegenüber, wenn sie für die Entscheidungen ihrer Eltern
bestraft würde, indem sie ihr ganzes Leben hier verbringen
muß. Aber in den ersten Jahren ist es
für ein Kind das Wichtigste, daß es bei den Eltern ist."
Der Löwe betrachtete sinnend das Kind. Nein, er konnte es dem
Hüter nicht übelnehmen, daß er es vor dem sicheren Tod
bewahrt hatte. Er war sogar froh darum, daß er nicht vorher davon
erfahren hatte. Und es imponierte ihn, daß er es geschafft hatte,
das ein Jahr lang geheimzuhalten. Da mußte die ganze Gruppe
mitgespielt haben. Die Gruppe konnte er vor der Strafe bewahren, Vater
und Mutter nicht, denn die waren eindeutig herauszufinden. Und das Kind
- nun, da gab es Gott sei Dank keine gesetzlichen Regelungen. Es war in
der Geschichte des Gefängnisses noch niemandem gelungen, eine
Schwangerschaft bis zum Tag der Geburt geheimzuhalten.
"Ich werde das Kind adoptieren." sagte der Löwe.
"Danke." antwortete der Mann.
Der Gefängnisleiter setzte die Strafe so niedrig an, wie es die Gesetze erlaubten. Und doch war es zu viel. Kesrith verfiel körperlich vor seinen Augen, ohne daß sich an seiner stillen Tapferkeit etwas änderte. Bis der Gefängnisleiter sich nach einem halben Jahr schließlich über alle Gesetze hinwegsetzte und die zusätzliche wöchentliche Folter strich. Wenige Tage später wurde Kesrith dann auf Befehl der Regierung an die Drachen verschickt. Und davon kehrte er nicht lebend zurück.
Und dann wanderten die Gedanken des Löwen zu einem Aspekt von Kesriths Leben, über den er noch nie nachgedacht hatte. Zuerst nicht, weil er es für einen angemessene Strafe für einen solchen Verbrecher gehalten hatte, wie es die Hüter des Lichts in seinen Augen gewesen waren, bis er Kesrith kennenlernte. Später - weil das Verhalten, diese ruhige Gelassenheit verbunden mit Lebensfreude und Freundlichkeit schon so einfach nicht zu dem paßte, was dem Hüter des Lichts in all den Jahren angetan worden war. Kesrith war alle drei Tage bis zur Besinnungslosigkeit gefoltert worden. Mehr kann ein menschlicher Körper nicht verkraften. Deshalb war die zusätzliche Strafe wegen dem Kind zuviel gewesen.
Der Gefängnisleiter dachte darüber nach, woher eine solch unmenschliche Tapferkeit kommen mag - und ihm kam eine Ahnung, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Ich, Kesrith, der Hüter des Lichts, schwebte über meinem toten Körper und beobachtete das Gespräch des Arztes mit dem Gefängnisleiter.
Wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich den Gefängnisleiter durch ein Lächeln beruhigt und über seine Entdeckung hinweggetröstet - obwohl es im Grunde nur gut war, daß er es begriffen hatte.
Ja. Es war, wie er dachte: wir Hüter des Lichts sind deshalb so tapfer, weil immer wiederkehrende Foltern eine harte Schule sind, aus der man lernt, nie, absolut nie zu zeigen, daß einen etwas verletzt. Denn jedes Zeichen von Schmerz wird sofort als Schwäche gedeutet und zieht noch mehr Schmerz, noch mehr Foltern nach sich, mit denen sie unsere Willen brechen wollen.
Doch das Entsetzen des Gefängnisleiters teile ich nicht. Mich hat diese schwere Zeit etwas sehr Wichtiges gelehrt - mit Folter kann man nicht jeden brechen. Man kann anderen nicht einmal die Lebensfreude damit rauben. Es hat mich gelehrt, daß das Gute nicht so wehr- und machtlos ist, wie es immer erscheint. Tatsächlich - je länger es währte, je öfter ich so mißhandelt wurde, desto tiefer wurde die tief in mir wohnende Lebensfreude. Und nach und nach sind die Länder, in denen wir arbeiteten auf unsere Linie eingeschwenkt.
Auf Dauer setzt sich das gute durch, denn es tut allen gut.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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