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Ich war zu der Zeit ein Gehirnschiff - das heißt, mein menschliches Nervensystem war mit der Elektronik eines Sternenschiffes so eng verbunden, daß ich alle inneren und äußeren Anlagen und Geräte des Schiffes mit meinen Gedanken lenken konnte.
Zuerst hatten sie meinen Kapitän zu Tode gefoltert und niemand hatte es gewagt, meine Partei zu ergreifen. Das war das erste mal in der Geschichte der Gehirnschiffe, daß jemand ungestraft einen Kapitän hatte ermorden können. Bisher war jedesmal für Tage durch die anderen Gehirnschiffe der gesamte Hafen stillgelegt und der Mörder zu Tode gefoltert worden. Diesmal nicht. Diesmal hatten sie Angst. Danach hatten die Drachen mich angewiesen, am Dock auf das Kommen meines Freundes zu warten. Zwei große Kriegs-Gehirnschiffe stellten sicher, daß ich nicht fliehen konnte. Still lauschte ich mit meinen Mikrofonen in den Gang der Zugangröhre und wartete auf die Schritte meines Freundes. Ich werde das seltsame schabende Geräuch nie vergessen, das ich damals zum ersten mal hörte. Dann sah ich es. Sie hatten ihm Flügel und Beine abgehackt und um vorwärts zu kommen, mußte er auf dem Bauch kriechen. Die Wunden waren noch nicht verheilt. Nur die größten Adern hatte man verschlossen, um sicherzustellen, daß er nicht verblutete. Dennoch zog er eine Spur von Blut und Wundwasser hinter sich her.
Bei dem Gedanken, was das für ihn bedeuten mußte, zog sich alles in mir zusammen. Ein Drache ist dazu geschaffen, zu fliegen! Und Drachen sind bei weitem nicht so anpassungsfähig wie Menschen. Die einzige Rasse im Universum, die es verkraftete, zu einem Gehirnschiff umoperiert zu werden, waren Menschen. Alle anderen waren so stark durch ihre Instinkte gebunden, daß es für sie eine unmenschliche Quälerei bedeutete, die sie nicht lange überleben konnten. Seth würde mehr leiden, als ein Mensch in einer vergleichbaren Situation.
Ich schloß die Tür hinter ihm und wünschte
mir mit beinahe schmerzhafter Intensität, ihn
berühren, ihn streicheln zu können. So war es
immer in solchen Situationen. Immer wenn jemand, den ich liebte,
traurig war. Sonst kam ich damit zurecht, meinen menschlichen
Körper verloren zu haben und nur Worte zur Verfügung zu
haben, um mit anderen Kontakt aufnehmen zu können. Aber wenn
jemand so litt, was waren da schon Worte? Er krümmte
sich zusammen, wie ein Drachenbaby im Ei
und wimmerte. Ich riß mich zusammen und
sagte liebevoll:
"Seth, mein Freund."
Er öffnete seine Augen, die durch den
Schmerz eine tiefdunkle Farbe angenommen
hatten.
"Möchtest du mir erzählen, was geschehen ist?" fragte ich
leise.
Er deutete ein Kopfschütteln an.
"Soll ich erzählen?"
Er stimmte zu.
Was ich zu erzählen hatte, war auch nicht schön, aber es lenkte ihn zumindest von seinem eigenen Elend ab. Diesmal ging es nicht um den Bericht. Ich erzählte jede unwesentliche Einzelheit, an die ich mich erinnerte, weil ich ihm nur durch meine Stimme zeigen konnte, daß ich da war, selbst wenn ich keinen menschlichen Körper mehr hatte, den er sehen konnte. Er hörte mit geschlossenen Augen zu und irgendwann bemerkte ich wie sein Atem ruhig und langsam wurde, weil er einschlief. Ich redete weiter, während die beiden Kriegsschiffe mich auf dem Weg zu dem Platz eskortierten, wo wir den Rest unseres Lebens verbringen sollten. Es war die Erde - genauer gesagt Goldminen, die tief unter der Erde lagen. Er sollte nach dem Willen seines Vaters die Sonne nicht mehr wiedersehen. Und ich würde kein Raumschiff mehr sein, sondern die Minen verwalten. Eine totlangweilige Aufgabe. Aber mit manchen Dingen muß man sich einfach abfinden. Ich konnte nichts dagegen tun. Immerhin wußte ich, die königliche Familie der Drachen durch tiefe Liebe miteinander verbunden war. Vielleicht würden wir nur hundert oder zweihundert Jahre warten müssen. Irgendwann würde jemand aus dieser Familie kommen und fragen, warum mein Freund sich entschieden hatte, ein Hüter zu sein. Vermutlich mußten wir nur Geduld haben. Dann würde es sich wieder zum Guten wenden.
Die Herrscher der Drachen warfen Atombomben auf der Erde ab. Milliarden Menschen starben. Nur das System von Minen zum Abbau der Bodenschätze blieb bewohnbar. Ich stellte Himmelfahrtskommandos zusammen, die alle auffindbaren Lebensmittelvorräte aus den zerstörten Städten einsammelten. Keiner von ihnen hat es mehr als ein paar Tage überlebt. Aber wir hatte dadurch für die ersten drei Jahre Lebensmittelvorräte und dann gab es wieder Land, dessen radioaktive Belastung inzwischen so nachgelassen hatte, daß man es bebauen und eine Ernte einbringen konnte. Das Saatgut aber bauten wir unterirdisch bei künstlichem Licht an. Land, das früher niemand als zum Ackerbau geeignet betrachtet hatte, wurde unter meiner Regie unter den Pflug genommen, weil es das einzige war, das nicht absolut tödlich verseucht war. Ein Großteil meiner Bauern starb früh, obwohl auch sie so viel Zeit wie möglich in der gefilterten unterirdischen Luft verbrachten. Die Ernten waren schlecht, auch wenn es mir immerhin gelang, die Menschen am Leben zu erhalten, die ohne technische Hilfsmittel lebensfähig waren. Um die anderen mit am Leben zu erhalten, reichte weder das verfügbare Land, noch unsere Arbeitskraft. Sie wurden direkt nach der Geburt getötet. Menschen mit schweren Gendefekten - Fehlende Arme, Augen oder Beine, zwei Köpfe wurden sterilisiert und für Aufgaben mit hohem Strahlungsrisiko eingeteilt. Ein Leben ist immer lebenswert. Aber wir hatten nicht wirklich die Wahl, Menschen zu töten oder ihnen ein Leben zu ermöglichen - wir hatten die Wahl, ob alle sterben oder nur die Schwächsten. Und ich tat, was unvermeidbar war, wenn wir nicht alle sterben sollten. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Und ich wünschte mir oft genug, ich könnte sterben, statt diese Verantwortung weitertragen zu müssen.
Den größten Teil der Strecke konnte ich sie nicht beobachten. Früher wäre das möglich gewesen, rein theoretisch hätte ich jeden von meinen Leuten Tag und Nacht überwachen können. Aber abgesehen davon, daß man davon nun wirklich nichts hat, gibt es auch so etwas wie Privartsphäre. Hier handelte es sich um Teile, die ursprünglich durch heute tote Nervenzellen kontrolliert worden waren und wir hatten deshalb die Bausteine verwendet um anderswo - an wichtigeren Stellen - die Anlagen zu reparieren. Also konnte ich sie erst im Besprechungsraum wieder sehen.
Zuerst einmal fragte ich Erth, was er von unseren Gästen hielt.
Er war empört. Sie hatten ihn nach seinem Leben und seiner
Familie gefragt. Er erzählte, daß ich ihn und seine Frau
hatte sterilisieren lassen und daß das Kind das sie aufzogen nur
deshalb bei ihnen lebte, weil die Mutter es verstoßen hatte.
Danach hatten unsere Gäste mich empört zur Tyrannin
erklärt. Erth war wütend, über dieses ungerechte
Urteil. Ich lachte.
"Erth, mein Lieber, ich kann mich sehr gut erinnern, daß du mich
immer wieder dafür verflucht hast, daß ich dir all diese
Dinge angetan habe. Und im gewissen Sinne hattest du damit recht. So
etwas sollte kein Mensch ertragen müssen."
Ich hatte ihn damals einfach nur getröstet.
"Aber es ist ungerecht. Es gab doch keine andere Möglichkeit!"
"Ja. Aber das können sie nicht wissen. Sie waren nicht dabei."
erklärte ich ihm.
Dann folgte ein langes Gespräch, in dem ich unseren Gästen
die Situation vor Augen führte und sie bat, mir doch bessere
Möglichkeiten aufzuzeigen. Sie hatten schon den ein oder
anderen Verbesserungsvorschlag - aber nachher wußten sie auch,
daß ich einfach in einer aussichtslosen Situation mein Bestes
getan hatte, um meinem Volk zu dienen. Die Ergebnisse waren miserabel
gewesen. Aber mehr als sein Bestes kann niemand tun. Und es gab
niemanden dort, der es hätte besser machen können. Nur
deshalb war diese undankbare Aufgabe an mir hängen geblieben.
Die Neuankömmlinge hatten keine für mich geeignete Nährlösung, weil in ihrem Volk der Bau von Gehirnschiffen verboten war. Ein gutes Zeichen, fand ich. Bis auf einen blieben alle Insassen des Raumschiffes auf der Erde, denn von den Menschen, die noch unter meiner Herrschaft lebten, war niemand gesund genug, um eine halbwegs normale Intelligenz zu entwickeln. Sie waren einfach zu dumm, um die Verwaltungsaufgaben zun übernehmen, die ich all die Jahre erfüllt hatte. Deshalb übernahmen Seth und unsere Gäste die Herrschaft, als ich nach einem halben Jahr starb, weil die Nährlösung ausging.
Quelle: Erinnerungen an eigene frühere Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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