Die ersten zehn Mitglieder der Bande erwischte ich wie geplant zu zweit oder zu dritt und besiegte sie. Zum Beweis meiner Erfolge hängte ich die Ohren an den Baum.
Dann jedoch griff ich zwei Rückkehrer auf dem Weg zur hütte an - und durch Zufall kamen ihnen gerade drei Leute aus der Räuberhütte entgegen. Deshalb konnte ich nicht unauffällig wieder verschwinden, ehe ihnen die letzten fünf auch noch zu Hilfe kamen und mußte so gegen alle auf einmal kämpfen. Ich besiegte sie dennoch alle.
Mein letzter Gegner war ein junger Mann. Es war der Sohn des Anführers, wie ich wußte, da ich die Räuberbande tagelang beobachtet hatte, bevor ich den eigentlichen Kampf begann. Er war jung und gesund, fähig ein sehr guter Kämpfer zu werden. Doch er hatte nicht die Ausbildung des Kriegervolkes, nicht die Kraft eines jungen Erwachsenen wie ich. Er war noch ausgeruht.
Selbst schwer verletzt und entkräftet war ich ihm noch weit überlegen. Mit wenigen, knappen Bewegungen entwaffnete ich ihn, trieb ihn zurück gegen die Felswand. Einen Augenblick zögerte ich, die Waffe zum zuschlagen bereit. Der Junge erkannte, daß er verloren hatte. Stolz richtete er sich auf und sah mich herausfordernd an. Ich erwiderte seinen Blick, bewunderte ihn. Er hatte einen Stolz, der ihn befähigte, auch in aussichtslosen Situationen sich selbst treu zu bleiben. Er hatte den Mut, unbekannten und großen Gefahren gegenüberzutreten, wenn die Zeit dazu gekommen war. Er hatte den Willen eine ganze Ewigkeit der Hoffnungslosigkeit durchzustehen, um ein Ziel zu erreichen, das ihm wichtig erschien. Er dachte in Liebe und Trauer an die seinen, die ich im Verlauf nur weniger Tages alle erschlagen hatte. Er hatte all jene Eigenschaften, die ihn bei meinem Volk zu einem der besten Krieger hätten werden lassen.
Ich hätte diese Fähigkeiten gerne ausgebildet, diese Möglichkeiten gerne Wirklichkeit werden lassen. Doch in seinen Augen sah ich den Wunsch nach Rache. Ihn am Leben zu lassen, hieße den Tod auf die Reise zu schicken, damit er in wenigen Jahren käme und die Hand dieses Jungen verwendete, um mich von dieser Welt abzurufen. Ich erschlug ihn und habe jahrelang um ihn getrauert.
Mühsam zog ich mich auf mein Pferd, als das Tier mich mit einem sanften Stoß seiner weichen Nase dazu aufforderte, überließ es dem Tier, zu meinem Schlupfwinkel zu finden. Erst als es stehenblieb, damit ich absteigen sollte, kam ich wieder weit genug zu mir, um mich vom Pferd gleiten zu lassen und meine Wunden zu versorgen. Dann schlief ich ein. Wochenlang tat ich nichts als schlafen, meine vielen kleinen Verletzungen zu versorgen und zu essen. Jede Bewegung bereitete mir Schmerzen. Keine der vielen Wunden war groß genug, daß sie für sich genommen in irgendeiner Form hätte gefährlich werden können. Die meisten waren nur kleine Kratzer, die kaum die Haut durchdrungen hatten. - Es waren halt all jene Hiebe, die ich nicht abgefangen hatte, weil zur gleichen Zeit mit einer anderen Waffe ein ernsthaft gefährlicher Schlag geführt worden war, den ich hatte abwehren müssen. Doch es waren hunderte solcher Kratzer. Sie überzogen meinen gesamten Körper, durch jeden von ihnen hatte ich ein paar Tropfen Blut verloren. Ich hatte bis zur Erschöpfung gekämpft. Es fehlte nicht viel, daß ich daran gestorben wäre. Hätte ich nicht schon als Kind gelernt den Frieden in mir zu finden, der hinter den Schmerzen wohnt, wäre ich gestorben - an den Verletzungen aber auch und vor allem an den Schmerzen, Verzweiflung und Einsamkeit. Doch ich lebte weiter, gewann ganz langsam und allmählich meine Kräfte wieder. Gewöhnte meinen geschwächten Körper wieder an die weichen, tänzerischen Bewegungen, eines erstklassigen Kämpfers.
Als ich einigermaßen wieder in Form war, rief ich mein treues Pferd zu mir und ritt hinunter ins Tal zu den Bauern. Sobald ich sicher war, daß dort keine Räuber oder Ritter herumliefen, die mir zur Gefahr hätten werden können, ritt ich auf den Versammlungsplatz in dessen Mitte der alte Baum stand, an dem ich die Ohren der ersten paar Räuber befestigt hatte, die ich einzeln hatte erwischen können. Ich hielt mein Pferd an und wartete unbeweglich. Ich schaute zu der Hütte hinüber, in der der Mann wohnte, der mir den Auftrag erteilt hatte, die Räuberbande zu besiegen. Ich hörte, wie sich zuerst die Türen in den Hütten hinter mir öffneten, wie Menschen ins Freie traten und untereinander tuschelten. Sie nannten mich einen Geist, der vom Tode zurückgekommen sei, fragten sich gegenseitig, welchen grausigen Lohn dieser Geist wohl von ihnen erwarten könne, dafür, daß er sie von der Räuberbande befreit hätte. Ich wartete schweigend, unbeweglich. Nach und nach versammelte sich das ganze Dorf in respektvoller Entfernung. Ganz zuletzt trat mein Auftraggeber aus seiner Hütte. Ich wartete. Das unbehagliche Getuschel wurde lauter und wieder leiser, die Leute verstummten wieder. Angst lag in der Luft.
Schließlich raffte sich der Dorfälteste auf und fragte laut:
"Was willst du von uns, oh Geist?"
Seine Stimme klang hart und zornig, weil er die Wut brauchte, um seine
Angst zu überwinden. Ich lachte leise und hoffte, daß das
nicht verächtlich wirkte. Ruhig sagte ich:
"Es wundert mich nicht, daß das Gerücht umgeht, ich sei in
jenem Kampf, den ich vor Wochen geführt habe, umgekommen. Ihr habt
lange nichts von mir gehört. Tatsächlich habe ich die
Zwischenzeit in meinem versteckten Lager zugebracht. Ich komme um den
zweiten Teil des Lohnes einzufordern, den wir für meine Arbeit
ausgemacht haben. Die Vorräte für den Sommer, der inzwischen
vergangen ist, habe ich schon bekommen. Jetzt ist es Zeit, daß ihr
mir das Getreide gebt, damit ich und mein Pferd diesen Winter und das
darauffolgende Frühjahr zu essen haben. Und ich brauche neue
Kleidung, um die alten, zerrissenen Sachen zu ersetzen."
Meine Wort hatten die Angst zerstreut, die die Bauern zum Schweigen
gebracht hatte. Jetzt begannen sie zu murren, daß das was ich
als meinen Lohn beanspruchte zu viel sei. Sind alle Bauern so? Wieder
wartete ich ruhig und unbeweglich, bis wieder Stille herrschte, bevor ich
fragte:
"Ich habe alleine eine ganze Räuberbande besiegt, die euer Dorf
tyrannisiert hat. Hat irgendeiner den geringsten Zweifel daran, daß
ich mir den Lohn, der mir zusteht, einfach holen könnte?"
Einen Augenblick herrschte lastendes Schweigen, ehe der Dorfälteste
die Antwort aussprach, die in der Luft lag:
"Nein, niemand zweifelt daran, daß du das kannst."
"Seht, Leute, so funktioniert es nicht. Im Frühjahr habt ihr
versprochen, daß ihr mir Vorräte und Kleidung für ein
Jahr geben würdet, wenn ich die Räuberbande besiege. Wenn
das euch das nicht wert ist, hättet ihr mich gleich fortschicken
müssen. Die Räuber hätten mehr genommen. Ich habe meinen
Teil erfüllt. Jetzt ist es Zeit, mich zu bezahlen. Sonst hole ich
mir meine Vorräte selber aus euren Speichern und wenn ihr wieder
einen Krieger braucht, der auf eurer Seite steht, werde ich euch nicht
mehr helfen, weil ihr Betrüger seid. Wollt ihr das?"
erklärte ich ruhig, ohne Zorn, doch in einem Tonfall, der den Bauern
verriet, daß es mir ernst war.
"Das war doch nur ein Scherz." meinte der Dorfälteste schnell.
Er sah mir nicht in die Augen als er weitersprach:
"Selbstverständlich erhältst du deinen versprochenen
Lohn!" Mit einem Nicken akzeptierte ich die Lüge.
Die Dörfler beeilten sich, mir die Vorräte auszuhändigen,
Ich mußte mehrmals hin- und herreiten, um sie alle in mein
verstecktes Winterlager zu bringen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.