vor 15.2.00
Denn fliehen - das hieß, das schöne, große, alte Haus in Shainsa zu verlassen, in dem ich aufgewachsen bin. Ich werde die Amme, die mich aufgezogen hat, als wäre ich ihr eigenes Kind, ebensowenig wiedersehen, wie die Spielgefährtinnen meiner Kindheit und all die anderen Frauen die sich immer um mich gekümmert hatten. Es hieß, daß ich alles hinter mir zurücklassen mußte, was mir lieb und teuer war. Als Kind war ich hier glücklich gewesen. Doch seit zwei Jahren ist alles anders.
Damals hat Muallir mit seiner Bande meinen Vater und alle Männer, die zu uns gehörten, erschlagen und ist nun Herr in diesem Hause.
Plötzlich stieß mich jemand grob von hinten an. Ich fuhr zu
Tode erschrocken herum und sah mich dem Anführer der Feinde
gegenüber. Ich fragte mich, was er von mir denken mochte. Er
hatte ein noch blutiges Schwert in der Hand. Ich ärgerte mich,
daß ich nicht rechtzeitig wieder im Haus verschwunden war.
Vielleicht würde er mich töten.
"Was tust du Schlampe hier? Siehst du nicht, daß hier
Männer kämpfen?" fuhr er mich an.
Ich richtete mich hoch auf, sah ihm voll Zorn in die Augen und sagte
stolz:
"Ich habe mich von meinem Vater verabschiedet."
Verblüfft sah er mich an, begriff, daß ich die Tochter des
Anführers sein mußte, lächelte leicht. Er würde
mir nichts mehr tun. Ich atmete auf. Da kamen zwei andere, die eine
verdreckte, erbärmlich magere Frau mit sich führten, die
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ausstrahlte. Ihr Haar war rot wie
meines. Ob sie aus den Domänen kam?
"Das ist meine Frau - Du wirst ihr das beste Zimmer in den
Frauengemächern zuweisen!" befahl der Mann mir. Ich
hätte ihn am liebsten erwürgt. Eisern nahm ich mich zusammen
und sagte ruhig:
"Keine Sorge, ich lasse selbst eine Bettlerin nicht auf der
Straße sitzen."
Jetzt war er wütend. Ich war froh, daß er mir nur mit
Worten drohte. Glücklicherweise verstand die Frau nichts. Ich
sagte in Casta, der Sprache meiner Mutter:
"Wenn Ihr mir bitte folgen würdet Mestra - ich zeige euch
euer zukünftiges Zimmer."
Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, grausam zu ihr zu
sein. Sie war so verzweifelt. Schweigend führte ich sie zu dem
fremdartig eingerichteten Zimmer, das seit meiner Geburt leer
stand. Die Frau sah sich staunend um:
"Oh, das ist ja wie zuhause!"
Ich lächelte:
"Ich dachte mir, daß es dir gefällt. Es war das
Zimmer meiner Mutter."
"War? Ist sie tot? Das tut mir leid."
Ich fragte mich, wo die Frau ihre Gedanken hatte. Streng sagte ich:
"Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Aber mein Vater
wurde heute erschlagen."
Die Frau starrte mich mit aufgerissenen Augen an und brach in
Tränen aus. Ich begriff, daß sie vor nicht allzulanger Zeit
ähnliches erlebt haben mußte. Doch sie hatte keine
Tanten oder Freundinnen, die ihr beistehen konnten. Ich nahm sie
tröstend in die Arme und fragte sanft:
"Wie heißt du?"
"Marilla." schluchzte sie.
"Wann immer du Hilfe brauchst werde ich für dich da sein
wie eine Schwester." versprach ich ihr. Sie war damals einundzwanzig.
Leise näherten sich Marillas Schritte. Ich lächelte ihr zu,
als sie die Tür öffnete und hereinschaute. Sie hatte ihren
Sohn auf dem Arm und ihre eineinhalbjährige Tochter dackelte
hinter ihr her. Es ist eine Schande: Mareile ist so ein hübsches
Kind, aber Muallir hat für sie nur Verachtung übrig.
"Was ist, Tianna? Du hast ja geweint." fragte sie besorgt.
"Mein Kind wird ein Mädchen und sie hat Laran."
antwortete ich.
Marilla nickte, sie hatte mir einmal erklärt, daß ich
solche Dinge wußte, weil ich mit meinem Laran mit dem Kind
Kontakt aufnahm. Sie spürte meine Sorge, daß meine Tochter
hier nur unglücklich werden könnte. Ein Vater, der sie
wahrscheinlich verachten wird und Laran.
"Ich werde fliehen." sagte ich.
"Wie willst du das machen?" fragte sie.
"Durch den Geheimgang, durch den wir damals die Jungen in
Sicherheit gebracht haben. Toal wird mir helfen. Willst du mit?"
Da begann Marilla still zu weinen. Ich hielt sie sanft in den Armen.
Ich wußte, daß die Antwort "Nein" lauten
würde. Ihr Sohn war noch keine Woche alt. Doch Marillas
Erklärung überraschte mich:
"Weißt du. - Du hast recht. Durch Haß kann ich meine
Brüder nicht wieder zum Leben erwecken. Und jetzt, wo ich mich
damit abgefunden habe, schlafe ich gerne mit Muallir. Mein Leben in
einem Haus der Domänen wäre kaum anders verlaufen."
"Seltsam. Es kann wohl doch nicht nur am Laran liegen, daß
es mir so zuwider ist, mit Muallir zu schlafen." sagte ich
nachdenklich.
Wieso konnte Marilla sich damit abfinden und ich nicht? Die Götter wissen, ich habe es versucht!
"Tianna, nimm Mareile mit. Ich fürchte, sie wird hier
unglücklich werden. Sie ist dir so ähnlich." bat Marilla.
"Dann kümmere du dich um Tuar - er ist hier besser
aufgehoben." entgegnete ich.
"Du hast mir erzählt, daß man in den Domänen
Messer tauscht, um sich ewige Freundschaft zu schwören. Mein Sohn
bedeutet mir tausendmal mehr." sagte ich ernst.
"Meine Tochter mir auch."
Wir nahmen uns in die Arme und trösteten uns gegenseitig.
Ich hätte wohl längst Selbstmord begangen, wenn es immer noch so wäre, wie in der ersten Nacht. Ich finde es schon schlimm genug, wenn ich seine Gedanken nicht auf meiner Haut spüre.
Ich kann nicht sagen, wer wem mehr geholfen hat - ich Marilla oder sie mir. Ich habe sie getröstet, ihr geholfen sich mit unseren Sitten zurechtzufinden und ihr immer und immer wieder gepredigt, daß Haß nicht weiterhilft. Daß man sich damit nur selber schadet. Anfangs redete sie ständig von Flucht. Ich versuchte sie dazu zu bringen, daß sie sich darauf vorbereitet. Der Geheimgang stand ihr ja offen. Erst nach Monaten wurde mir klar, daß Marilla nicht die Frau ist, die so etwas tut. Ich an ihrer Stelle, in einem fremden Haus, an das mich nichts bindet, von dem Mann gefangengehalten, der meine Brüder tötete, ich wäre geflohen und wahrscheinlich dabei umgekommen. Sie ist nicht so starrsinnig und furchtlos wie ich. Ich will sie damit nicht schlechtmachen. Marilla ist eine großartige Frau, die sich selbst in der größten Verzweiflung noch um andere kümmert. Aber sie hat eine ganz andere Persönlichkeit als ich. Wie die Dinge lagen, band mich derselbe Starrsinn, derselbe Stolz an das Haus, der mich an Marillas Stelle zur Flucht getrieben hätte. Ich sorgte dafür, daß die kleinen Jungen durch den Geheimgang, den meine Mutter Jahre zuvor in weiser voraussicht bauen ließ, zu der Bande ihrer älteren Brüder flohen, bevor die Eroberer sie entdeckten. Ich zwang mich die Nächte durchzustehen, ohne mir etwas anmerken zu lassen, sorgte dafür, daß sich die Frauen nicht gegeneinander ausspielen ließen. Ich überredete Marilla, unsere Sprache zu lernen, half ihr, ihren inneren Frieden wiederzufinden. Mit Marillas Hilfe lernte ich, das Leben meines Zwillingsbruders von meinem zu trennen, nicht ständig seine Gedanken mitzuhören. Er umgekehrt auch.
Vielleicht wollte ich mich damit nur von meiner eigenen Verzweiflung ablenken, die immer größer wurde, je länger ich so lebte.
Während wir stumm nebeneinander herritten, beobachtete ich sie aufmerksam. Tianna hielt das Kind fest und erzählt ihm leise mit liebevoller Stimme Geschichten. Ihren unförmigen Frauen-Reitmantel um sich geschlungen, mit musikalisch klingelnden Ketten. Sie sah unglaublich sanft und mütterlich aus. Niemand hätte in ihr etwas hartes, zorniges vermutet.
Wir ritten die ganze Nacht. Wenn ich abstieg, um das Pferd zu schonen, machte sie es mir nach, und ließ nur das Kind, im Sattel festgebunden, reiten. Wie ein dunkler, schweigender Schatten blieb sie hinter mir, als die Sonne wieder aufging, kaute wortlos im Sattel das Frühstück, nahm das Kind an die Brust. Sie sagte nichts, fragte nichts und beschwerte sich nicht über die Strapazen. Doch ihre Abschirmung ließ nach. Ich konnte ihre Müdigkeit spüren und daß sie wundgeritten war.
Ich hielt erst an, als die Sonne wieder unterging. Tianna hüllte
fürsorglich das schlafende Kind in ihren Schlafsack.
"Tianna, ich habe etwas für dich." sagte ich.
Tianna nahm das Geschenk zögernd entgegen, wickelte es aus. Es ist
schön, daß ich inzwischen gelernt habe, mich so
abzuschirmen, daß ich ein Geheimnis vor ihr hüten kann.
"Ein Schwert?" das war das letzte, womit sie gerechtnet
hätte, "wieso ein Schwert?"
"Tianna, willst du meine Frau werden?" fragte ich und
schmunzelte über den Erfolg meiner Überraschung.
"Nein, du bist doch mein Bruder!" antwortete sie, immer
noch verwirrt.
"Was fängst du dann mit deinem Leben an?" fragte ich.
Tianna kam ins Grübeln, ließ sich alle Möglichkeiten
durch den Kopf gehen. Sie war nicht vor einem Herrn davongelaufen, um
sich dem nächsten zu unterwerfen. Da erst verstand sie:
"Danke." Versonnen lächelnd holte sie einen
Schlüssel aus ihrer Tasche und löste die Ketten. Ich war
verblüfft. Tianna grinste spitzbübisch und erklärte:
"Die Schlüssel meiner Mutter."
Ich lachte, denn das war im doppelten Sinne wahr. Und ließ sie, gemein wie ich war, noch zwei Stunden kämpfen üben. Sie gab nicht zu, daß sie nicht mehr konnte und solcher Stolz muß bestraft werden.
Es gibt noch eine andere Tianna als dieses sanfte, liebevolle weibliche Wesen. Eine Tianna, die einen Jungen zu Boden zu ringt, die einen Mann, der mit gezogenem Schwert vor ihr steht, stolz in die Schranken verweist. Die seine Beleidigung mit einer Beleidigung beantwortet, obwohl er sie dafür hätte töten können. Es gibt eine stolze, mutige, kämpferische Tianna, die nie vor Feinden zugibt, wenn sie leidet. Eine Tianna mit Kihar, die es nicht erträgt, daß ihr Herr sie in sein Bett befehlen kann. Vielleicht hätte ich das nie begriffen, wenn ich nicht wüßte, daß unsere Mutter eine Kriegerin war, für deren Kihar sich kein Mann hätte schämen müssen. Der Mann, dem Tianna ihre Liebe schenken wird, hat Glück.
Erst am nächsten Morgen, als die kleine Mareile schlaftrunken
fragte, wo ihre Mama wäre, fiel mir auf, daß meine Schwester
nicht ihr eigenes Kind mitgenommen hatte, sondern die Tochter ihrer
Freundin. Ich war zuerst wütend. Doch Tianna lächelte nur
über meinen Zorn und sagte:
"Nicht wahr Toal, es ist doch gut, daß wir gelernt haben,
Geheimnisse voreinander zu hüten."
Ich brach in Lachen aus.
G11. Fortsetzung:
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