vor 15.2.00

Fantasy, Darkover: Zwillingsbande

G10.

Geheimnisse

Tianna erzählt:

*So geht das nicht weiter. Du mußt fliehen.*
Mit diesen Worten hatte mein Bruder Toal am Vorabend die Erfahrungen der letzten Jahre zusammengefaßt. Er hatte recht. Deshalb habe ich die ganze Nacht geweint.

Denn fliehen - das hieß, das schöne, große, alte Haus in Shainsa zu verlassen, in dem ich aufgewachsen bin. Ich werde die Amme, die mich aufgezogen hat, als wäre ich ihr eigenes Kind, ebensowenig wiedersehen, wie die Spielgefährtinnen meiner Kindheit und all die anderen Frauen die sich immer um mich gekümmert hatten. Es hieß, daß ich alles hinter mir zurücklassen mußte, was mir lieb und teuer war. Als Kind war ich hier glücklich gewesen. Doch seit zwei Jahren ist alles anders.

Damals hat Muallir mit seiner Bande meinen Vater und alle Männer, die zu uns gehörten, erschlagen und ist nun Herr in diesem Hause.

Marilla

Als ich sah, wie mein Vater tödlich verwundet wurde, rannte ich in den Hof, wo noch gekämpft wurde, zu meinem sterbenden Vater hin. Er machte mir für diesen Leichtsinn Vorwürfe. Doch wenigstens konnte ich mit ihm noch ein paar Worte wechseln, bevor er starb.

Plötzlich stieß mich jemand grob von hinten an. Ich fuhr zu Tode erschrocken herum und sah mich dem Anführer der Feinde gegenüber. Ich fragte mich, was er von mir denken mochte. Er hatte ein noch blutiges Schwert in der Hand. Ich ärgerte mich, daß ich nicht rechtzeitig wieder im Haus verschwunden war. Vielleicht würde er mich töten.
"Was tust du Schlampe hier? Siehst du nicht, daß hier Männer kämpfen?" fuhr er mich an.
Ich richtete mich hoch auf, sah ihm voll Zorn in die Augen und sagte stolz:
"Ich habe mich von meinem Vater verabschiedet."
Verblüfft sah er mich an, begriff, daß ich die Tochter des Anführers sein mußte, lächelte leicht. Er würde mir nichts mehr tun. Ich atmete auf. Da kamen zwei andere, die eine verdreckte, erbärmlich magere Frau mit sich führten, die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ausstrahlte. Ihr Haar war rot wie meines. Ob sie aus den Domänen kam?
"Das ist meine Frau - Du wirst ihr das beste Zimmer in den Frauengemächern zuweisen!" befahl der Mann mir. Ich hätte ihn am liebsten erwürgt. Eisern nahm ich mich zusammen und sagte ruhig:
"Keine Sorge, ich lasse selbst eine Bettlerin nicht auf der Straße sitzen."
Jetzt war er wütend. Ich war froh, daß er mir nur mit Worten drohte. Glücklicherweise verstand die Frau nichts. Ich sagte in Casta, der Sprache meiner Mutter:
"Wenn Ihr mir bitte folgen würdet Mestra - ich zeige euch euer zukünftiges Zimmer."

Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, grausam zu ihr zu sein. Sie war so verzweifelt. Schweigend führte ich sie zu dem fremdartig eingerichteten Zimmer, das seit meiner Geburt leer stand. Die Frau sah sich staunend um:
"Oh, das ist ja wie zuhause!"
Ich lächelte:
"Ich dachte mir, daß es dir gefällt. Es war das Zimmer meiner Mutter."
"War? Ist sie tot? Das tut mir leid."

Ich fragte mich, wo die Frau ihre Gedanken hatte. Streng sagte ich:
"Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Aber mein Vater wurde heute erschlagen."
Die Frau starrte mich mit aufgerissenen Augen an und brach in Tränen aus. Ich begriff, daß sie vor nicht allzulanger Zeit ähnliches erlebt haben mußte. Doch sie hatte keine Tanten oder Freundinnen, die ihr beistehen konnten. Ich nahm sie tröstend in die Arme und fragte sanft:
"Wie heißt du?"
"Marilla." schluchzte sie.
"Wann immer du Hilfe brauchst werde ich für dich da sein wie eine Schwester." versprach ich ihr. Sie war damals einundzwanzig.

Keine Messer

Die Sonne ging auf. Tual, mein kleiner Sohn erwachte, weinte und ich legte ihn an die Brust. Sollte ich ihn hierlassen, wo er bei Marilla in Sicherheit wäre? Bei dem Gedanken hätte ich heulen mögen. Muallir liebte seinen Sohn. Er würde dafür sorgen, daß Tual seinen Platz im Leben finden würde. Wenn ich ihn mitnähme - würde er da überleben? Ich war schon wieder schwanger.

Leise näherten sich Marillas Schritte. Ich lächelte ihr zu, als sie die Tür öffnete und hereinschaute. Sie hatte ihren Sohn auf dem Arm und ihre eineinhalbjährige Tochter dackelte hinter ihr her. Es ist eine Schande: Mareile ist so ein hübsches Kind, aber Muallir hat für sie nur Verachtung übrig.
"Was ist, Tianna? Du hast ja geweint." fragte sie besorgt.
"Mein Kind wird ein Mädchen und sie hat Laran." antwortete ich.
Marilla nickte, sie hatte mir einmal erklärt, daß ich solche Dinge wußte, weil ich mit meinem Laran mit dem Kind Kontakt aufnahm. Sie spürte meine Sorge, daß meine Tochter hier nur unglücklich werden könnte. Ein Vater, der sie wahrscheinlich verachten wird und Laran.
"Ich werde fliehen." sagte ich.
"Wie willst du das machen?" fragte sie.
"Durch den Geheimgang, durch den wir damals die Jungen in Sicherheit gebracht haben. Toal wird mir helfen. Willst du mit?"
Da begann Marilla still zu weinen. Ich hielt sie sanft in den Armen. Ich wußte, daß die Antwort "Nein" lauten würde. Ihr Sohn war noch keine Woche alt. Doch Marillas Erklärung überraschte mich:
"Weißt du. - Du hast recht. Durch Haß kann ich meine Brüder nicht wieder zum Leben erwecken. Und jetzt, wo ich mich damit abgefunden habe, schlafe ich gerne mit Muallir. Mein Leben in einem Haus der Domänen wäre kaum anders verlaufen."
"Seltsam. Es kann wohl doch nicht nur am Laran liegen, daß es mir so zuwider ist, mit Muallir zu schlafen." sagte ich nachdenklich.

Wieso konnte Marilla sich damit abfinden und ich nicht? Die Götter wissen, ich habe es versucht!

"Tianna, nimm Mareile mit. Ich fürchte, sie wird hier unglücklich werden. Sie ist dir so ähnlich." bat Marilla.
"Dann kümmere du dich um Tuar - er ist hier besser aufgehoben." entgegnete ich.
"Du hast mir erzählt, daß man in den Domänen Messer tauscht, um sich ewige Freundschaft zu schwören. Mein Sohn bedeutet mir tausendmal mehr." sagte ich ernst.
"Meine Tochter mir auch."

Wir nahmen uns in die Arme und trösteten uns gegenseitig.

Abschirmung

Als Muallir mich das erste mal in sein Bett rief, war ich vierzehn. Muallir versuchte mich zu beruhigen, mir mein Entsetzen zu nehmen, das mich bei dem Gedanken erfüllte, daß er in mich eindringen könnte. Es war ein Ekel, den ich nicht überwinden konnte, vor der Gier in seinen Gedanken, vor seinen Gefühlen, die über meinen Körper zu streichen schienen wie schmierige Würmer. Ich fühlte mich beschmutzt und in die Ecke gedrängt - bevor er mich auch nur berührt hatte. Sein Mitleid, seine Erklärung, daß er mir bestimmt nicht wehtun würde, daß ich keine Angst haben müsse - die meisten Frauen hätten später Spaß daran. All das konnte mich nicht beschwichtigen, denn mit meinen wirklichen Ängsten hatte es nichts zu tun. Ich habe versucht, ihm zu erklären, was ich fühlte, doch er lachte nur über meine Worte, die ihm wie wirres Gerede erschienen. Was sollte ich machen? Ich habe mich eisern zusammengenommen, meinen Körper gewaltsam entspannt und das Ganze passiv über mich ergehen lassen. Und am nächsten Morgen bin ich wie ein kleines Kind heulend zu meiner Amme gerannt und habe ihr erzählt, wie schrecklich es war.
"Aber Kind - Gedanken sind doch keine Würmer. Komm. Beruhige dich. Es tut nur beim ersten mal ein bißchen weh und später macht es Spaß, glaube mir." wollte sie mich trösten. Falls es wehtut, hatte ich davon nichts gemerkt. Natürlich weiß ich, daß Gedanken keine Würmer sind, ich bin doch nicht blöd! Zutiefst verletzt stolzierte ich aus dem Zimmer und begegnete Marilla. Sie sah mich an, zog mich in ihr Zimmer und sagte:
"Nicht wahr - er ist wie ein Tier."
Da schüttete ich ihr mein Herz aus. Sie nickte verständnisvoll, als ich ihr von meinem Ekel erzählte und fragte bestürzt:
"Kind, kannst du dich nicht abschirmen?"
"Was ist abschirmen?"
"Ich habe zwar nur das nötigste gelernt - aber wenigstens das kann ich dich lehren. Ich habe gesehen, daß du eine Matrix trägst. Hol sie heraus und..."

Ich hätte wohl längst Selbstmord begangen, wenn es immer noch so wäre, wie in der ersten Nacht. Ich finde es schon schlimm genug, wenn ich seine Gedanken nicht auf meiner Haut spüre.

Ich kann nicht sagen, wer wem mehr geholfen hat - ich Marilla oder sie mir. Ich habe sie getröstet, ihr geholfen sich mit unseren Sitten zurechtzufinden und ihr immer und immer wieder gepredigt, daß Haß nicht weiterhilft. Daß man sich damit nur selber schadet. Anfangs redete sie ständig von Flucht. Ich versuchte sie dazu zu bringen, daß sie sich darauf vorbereitet. Der Geheimgang stand ihr ja offen. Erst nach Monaten wurde mir klar, daß Marilla nicht die Frau ist, die so etwas tut. Ich an ihrer Stelle, in einem fremden Haus, an das mich nichts bindet, von dem Mann gefangengehalten, der meine Brüder tötete, ich wäre geflohen und wahrscheinlich dabei umgekommen. Sie ist nicht so starrsinnig und furchtlos wie ich. Ich will sie damit nicht schlechtmachen. Marilla ist eine großartige Frau, die sich selbst in der größten Verzweiflung noch um andere kümmert. Aber sie hat eine ganz andere Persönlichkeit als ich. Wie die Dinge lagen, band mich derselbe Starrsinn, derselbe Stolz an das Haus, der mich an Marillas Stelle zur Flucht getrieben hätte. Ich sorgte dafür, daß die kleinen Jungen durch den Geheimgang, den meine Mutter Jahre zuvor in weiser voraussicht bauen ließ, zu der Bande ihrer älteren Brüder flohen, bevor die Eroberer sie entdeckten. Ich zwang mich die Nächte durchzustehen, ohne mir etwas anmerken zu lassen, sorgte dafür, daß sich die Frauen nicht gegeneinander ausspielen ließen. Ich überredete Marilla, unsere Sprache zu lernen, half ihr, ihren inneren Frieden wiederzufinden. Mit Marillas Hilfe lernte ich, das Leben meines Zwillingsbruders von meinem zu trennen, nicht ständig seine Gedanken mitzuhören. Er umgekehrt auch.

Vielleicht wollte ich mich damit nur von meiner eigenen Verzweiflung ablenken, die immer größer wurde, je länger ich so lebte.

Toal erzählt:

Als ich zu den Felsen kam, zwischen denen der Ausgang des Geheimganges lag, wartete Tianna schon auf mich. Wortlos stieg meine Zwillingschwester auf und setzte das Kind vor sich in den Sattel. Schweigend wandte ich mein Pferd und wir ritten hinaus ins Trockenland. Zwischen uns bedarf es keiner Worte. - Auch jetzt noch, wo ich nicht mehr jeden ihrer Gedanken mitbekomme.

Während wir stumm nebeneinander herritten, beobachtete ich sie aufmerksam. Tianna hielt das Kind fest und erzählt ihm leise mit liebevoller Stimme Geschichten. Ihren unförmigen Frauen-Reitmantel um sich geschlungen, mit musikalisch klingelnden Ketten. Sie sah unglaublich sanft und mütterlich aus. Niemand hätte in ihr etwas hartes, zorniges vermutet.

Wir ritten die ganze Nacht. Wenn ich abstieg, um das Pferd zu schonen, machte sie es mir nach, und ließ nur das Kind, im Sattel festgebunden, reiten. Wie ein dunkler, schweigender Schatten blieb sie hinter mir, als die Sonne wieder aufging, kaute wortlos im Sattel das Frühstück, nahm das Kind an die Brust. Sie sagte nichts, fragte nichts und beschwerte sich nicht über die Strapazen. Doch ihre Abschirmung ließ nach. Ich konnte ihre Müdigkeit spüren und daß sie wundgeritten war.

Ich hielt erst an, als die Sonne wieder unterging. Tianna hüllte fürsorglich das schlafende Kind in ihren Schlafsack.
"Tianna, ich habe etwas für dich." sagte ich.

Tianna nahm das Geschenk zögernd entgegen, wickelte es aus. Es ist schön, daß ich inzwischen gelernt habe, mich so abzuschirmen, daß ich ein Geheimnis vor ihr hüten kann.
"Ein Schwert?" das war das letzte, womit sie gerechtnet hätte, "wieso ein Schwert?"
"Tianna, willst du meine Frau werden?" fragte ich und schmunzelte über den Erfolg meiner Überraschung.
"Nein, du bist doch mein Bruder!" antwortete sie, immer noch verwirrt.
"Was fängst du dann mit deinem Leben an?" fragte ich. Tianna kam ins Grübeln, ließ sich alle Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Sie war nicht vor einem Herrn davongelaufen, um sich dem nächsten zu unterwerfen. Da erst verstand sie:
"Danke." Versonnen lächelnd holte sie einen Schlüssel aus ihrer Tasche und löste die Ketten. Ich war verblüfft. Tianna grinste spitzbübisch und erklärte:
"Die Schlüssel meiner Mutter."

Ich lachte, denn das war im doppelten Sinne wahr. Und ließ sie, gemein wie ich war, noch zwei Stunden kämpfen üben. Sie gab nicht zu, daß sie nicht mehr konnte und solcher Stolz muß bestraft werden.

Es gibt noch eine andere Tianna als dieses sanfte, liebevolle weibliche Wesen. Eine Tianna, die einen Jungen zu Boden zu ringt, die einen Mann, der mit gezogenem Schwert vor ihr steht, stolz in die Schranken verweist. Die seine Beleidigung mit einer Beleidigung beantwortet, obwohl er sie dafür hätte töten können. Es gibt eine stolze, mutige, kämpferische Tianna, die nie vor Feinden zugibt, wenn sie leidet. Eine Tianna mit Kihar, die es nicht erträgt, daß ihr Herr sie in sein Bett befehlen kann. Vielleicht hätte ich das nie begriffen, wenn ich nicht wüßte, daß unsere Mutter eine Kriegerin war, für deren Kihar sich kein Mann hätte schämen müssen. Der Mann, dem Tianna ihre Liebe schenken wird, hat Glück.

Erst am nächsten Morgen, als die kleine Mareile schlaftrunken fragte, wo ihre Mama wäre, fiel mir auf, daß meine Schwester nicht ihr eigenes Kind mitgenommen hatte, sondern die Tochter ihrer Freundin. Ich war zuerst wütend. Doch Tianna lächelte nur über meinen Zorn und sagte:
"Nicht wahr Toal, es ist doch gut, daß wir gelernt haben, Geheimnisse voreinander zu hüten."
Ich brach in Lachen aus.

Kersti


G11. Kersti: Fortsetzung: Eine nutzlose Waffe
G9. Kersti: Vorheriges: Frau mit Kihar
GI1: Kersti: Übersicht: Zwillingsbande
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
Z60. Kersti: Fantasywelt Darkover
VB17. Kersti: Fantasy
1. Kersti: Zauberschloß
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