Mein Vater brachte mich zu ihm hin und drohte mir, daß er mich foltern würde, bis ich mich drei Tage nicht mehr rühren kann, wenn ich keinen guten Eindruck auf ihn machen würde. Ich sah meinen Vater nur schweigend an und bekam große Lust, extra einen schlechten Eindruck auf den Heiler zu machen.
Dann stieg ich aus und ein alter weishaariger Mann kam auf mich zu, der eine solche Güte ausstrahlte, daß ich mir nur noch wünschte, für immer bei ihm bleiben zu dürfen. Ich verlieh meiner Freude, ihn zu sehen mit einem Lächeln Ausdruck. Der Mann erwiderte das Lächeln. Dann bat er meinen Vater, uns alleine zu lassen und brachte mich in seine einfache Hütte. Wir setzten uns auf den Fußboden.
Der Mann betrachtete mich so aufmerksam, daß es mir schien, als
müßte er jedes einzelne Haar auf meinem Körper bemerkt
haben. Aber es war eine freundliche Aufmerksamkeit, bei der ich mich
wohlfühlte. Und so wie du fragte er auch als erstes, ob ich
wüßte, was die Ursache für meinen Buckel sei, der
damals noch viel schlimmer war. Er erklärte mir, daß man so
etwas bekommt, wenn man in einer Situation so wenig Unterstützung
bekommt, daß man sein Selbstwertgefühl verliert.
"Wer unterstützt mich schon." fragte ich bitter.
"Unterstützt dich keiner?" fragte er
sanft zurück.
"Nein. Mein Vater sorgt schon dafür, daß die
Menschen, die mir helfen wollen, bald nicht mehr da sind. Ganz
abgesehen davon, daß mir gegen ihn sowieso niemand helfen
kann." antwortete ich.
"Wie sorgt er dafür?" fragte der Heiler sanft.
Ich erzählte, wie mein Vater meinen Schwertkampflehrer aus dem
Raumschiff geworfen hatte.
"Das ist ernst." sagte er.
"Du siehst, gegen meinen Vater kann mir niemand helfen."
stellte ich fest.
"Nicht gegen deinen Vater. Aber ich denke schon, daß ich dir
etwas lehren kann, was dir im Umgang mit deinem Vater hilft.
Immerhin ist es mir gelungen, ihm klarzumachen, daß er mich
nicht zwingen kann, dich gut zu unterrichten. Daß er mich bitten
muß. Und er hat nachgegeben.
Was du hier lernen wirst, ist innere Stärke, die durch Gewalt
nicht gebrochen werden kann, weil sie auf einer ganz anderen Ebene
liegt.
Willst du von mir lernen?"
"Ja." sagte ich von ganzem Herzen.
"Komm, dann laß uns rausgehen und deinem Vater sagen,
daß ich dich als Schüler angenommen habe.
Und denk daran: das tue ich nicht für deinen Vater, nicht weil er
mir gedroht hat. Das tue ich nur für dich."
Damals habe ich vor Freude geweint.
Nach diesem Gespräch gingen wir hinaus zu meinem Vater, der den
Heiler aufforderte, ihm in sein Schiff zu folgen. Als der Heiler wieder
herauskam, war sein Gesicht naß von Tränen. Dann flog mein
Vater davon.
"Du hast geweint?" fragte ich.
"Ja. Hast du schon öfter Erwachsene weinen sehen?"
"Ja. Das tun alle, wenn sie mit meinem Vater allein im Schiff sind.
Aber ich habe mich nie getraut, sie darauf anzusprechen." sagte
ich.
Der Heiler nickte und fragte:
"Weißt du auch warum?"
"Ich glaube, er foltert sie. Aber sie erzählen nie etwas
davon." sagte ich.
"Macht er das mit dir etwa auch?"
"Ja."
"Wie oft und wie lange?"
"Wenn ich ihn überhaupt sehe, mindestens einmal am Tag so
lange, bis ich mich nicht mehr bewegen kann."
"Das ist ernst."
"Ich kann es aushalten."
Er sah mich überrascht an und sagte:
"Du bist innerlich sehr stark, weiß du das?"
"Ja. Aber woher weißt du das? Ich habe dir doch noch gar
nicht alles erzählt!" sagte ich.
Dann erzählte ich ihm von der Schwertkampfschule. Während er
mir zuhörte, sah ich ihn weinen.
Auch der Heiler erwartete von mir, daß ich den ganzen Tag fleißig war. Doch er zwang mich zu nichts. Er nutzte meinen Stolz und meine Bereitschaft, jeden Menschen, dem ich begegnete, zu lieben, um das zu erreichen.
Einige Male befahl er mir aber, drei Wochen ganz allein in der Wüste zu schlafen und mit niemanden zu reden und keinerlei Arbeit zu tun. Erst nach dem dritten Male, verstand ich warum. Ich habe so gelernt mit mir allein glücklich zu sein.
Zwei Jahre hat mein Vater für diese Lehre vorgesehen, doch der Heiler erreichte, daß ich drei Jahre bei ihm bleiben durfte.
In dieser Zeit wurde ich zu einem sehr guten Heiler. Aber das war mir nicht bewußt, denn er war immer noch weitaus besser als ich.
Zum Abschluß meiner Lehre gab er mir ein Empfehlungsschreiben
für die Schule der Heilkunst, in der er ausgebildet worden war, in
die Hand. Er sagte mir, daß mein Vater vergeblich versucht hatte,
mich dort unterzubringen und daß ich, wenn ich wolle, jetzt dort
weiterlernen könne. Aber ich müsse den Berg dort zu Fuß
hochsteigen, ohne Schuhe. Ich nickte und freute mich auf die Chance,
bei Männern zu lernen, denen mein geliebter Lehrer so viel Achtung
entgegenbrachte.
Zuerst schickte mein Vater mich jedoch woanders hin." beendete
Jesus seine Geschichte.
Wieder ließ ich ihn die Geschichte vom Mord erzählen, und immer noch war ein unglaublicher Zorn darin zu spüren. Doch war es schon weniger geworden. Ich ließ ihn weitere Stationen seiner Kindheit erzählen, wieder von vorne bei seinen ersten Erinnerungen anfangen, fragte nach Ereignissen in früheren Leben... oft war ich nahezu so weit, an meiner Aufgabe zu verzweifeln. Doch nach und nach wurde die Wut geringer.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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