1/2012
Sie musterten mich, betrachteten meine nackte Gestalt und lachten. Dann nahm mich ein Junge am Arm, führte mich zu einem Garten und erklärte mir, wie man Unkraut rupft. Wenn ich fertig wäre, so sagte er mir, bekäme ich etwas zu essen. Ich aß einen Teil des Unkrautes und die Raupen, die ich vom Gemüse absammeln sollte, auf.
Ich mußte den ganzen Tag im Garten arbeiten. Abends aber durfte ich mit der Familie essen. Sie aßen Obst und Gemüse, ich bekam nur ein Stückchen Brot. Das war viel mehr, als ich je bekommen hatte. Ein halbes Jahr lang arbeitete ich auf den Feldern der Bauernfamilie und schätzte mich glücklich, daß ich mich jeden Abend sattessen durfte und nur selten geschlagen wurde. Ich wuchs sehr schnell in dieser Zeit.
Eines Tages kamen dann die Jungen der Familie und wollten mich fesseln. Ich wehrte mich, doch sie schlugen mich bewußtlos. Ich hatte gedacht, wenn ich etwas zu essen bekomme bin ich kein Sklavenjunge mehr, denn Sklaven bekommen nie etwas zu essen.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich gefesselt auf dem Wagen, auf dem der Vater der Familie immer seine Waren zum Markt fuhr. Ich richtete mich auf die Knie auf und sah mich um. Ich sprach den Vater nicht an, denn jetzt wußte ich, er wollte mich verkaufen, wie mein Stamm die älteren Sklavenjungen verkauft hatte. Ich war traurig, denn ich hatte gedacht, er gibt mir zu essen, weil er mich mag. Ich sehnte mich nach meiner Mutter, die mich als einzige wirklich geliebt hatte.
Auf dem Markt kaufte ein hagerer Mann die Sklavenjungen auf. Er kettete uns alle zusammen und wir mußten neben seinem Pferd hergehen. Außer mir gab es etwa 20 Bauernjungen, die immer noch ihre Hoden hatten und zehn halbverhungerte Sklavenjungen aus den Stämmen, die wie ich schon als Babys kastriert worden waren. Wir Eunuchen bekamen zu essen, die anderen ließ der Herr hungern. Wir waren wertvoller als die anderen Jungen.
Schließlich kamen wir in eine Stadt. Ich bestaunte die großen Häuser, von denen manche vier Stockwerke hatten, die gepflasterten Straßen, die bunten Kleider der Städter. In eines der Gehöfte wurden wir hereingeführt. Vier große Gebäude umgaben einen quadratischen Hof, in dessen Mitte ein privater Brunnen war. Wir wurden in das hintere Gebäude geführt und mußten uns mit kaltem Wasser waschen.
Dann kam ein Sklave - ein Eunuch wie wir - dessen Aussehen mich zuerst erschreckte. Die linke Hälfte seines Kopfes war kaum noch als menschlich zu erkennen, Auge und Ohr fehlten ganz, an manchen Stellen schaute der nackte Knochen heraus, sonst war alles mit wulstigen Narben bedeckt.
Zuerst durchstach er unsere Ohrläppchen und
zog Ringe hindurch. Die Bauernjungen weinten, als er das tat, wir Jungen aus den Stämmen ließen es schweigend über und ergehen.
Ich war der größte und kam deshalb als letzter
dran. Er hielt mich dabei so fest, daß es wehtat, strich mir danach aber tröstend übers
Haar. Ich betrachtete die gesunde Seite seines
Gesichts. Er sah traurig aus. Die Bauernjungen weinten immer noch. Ich fand das albern,
denn es war nicht halb so schlimm, wie die
Peitschenhiebe, die wir ständig bekamen.
Dann führte er mich um die Ecke zu einem
Feuer.
"Knie nieder." befahl er.
Ich gehorchte und sah ihn fragend an.
"Du mußt jetzt sehr tapfer sein. Nimm den
Stock hier in den Mund, beiß so fest darauf,
wie du kannst und halt still, sonst wird es
nur noch schlimmer."
Ich nahm den Stock in den Mund, dann griff
er meinen Nacken und drückte meinen Kopf
zwischen meinen Knien zu Boden. Ich bekam
plötzlich Angst und verkrampfte mich. Ich
hatte wieder das Feuer vor Augen, an dem der
Schamane mir mit dem Messer in den Rücken
gestochen hatte.
"Ruhig. Entspann dich. Das tut zwar weh,
aber es ist nicht wirklich schlimm."
Ich entspannte meine Muskeln, dann kniete
ein anderer Mann neben mir nieder, drückte
etwas glühendheißes auf meine Schulter und
vor Schmerz hätte ich am liebsten geschrien,
so sehr brannte es. Einige Sekunden hielten
sie mich in der Stellung fest, dann wurde das
Brannteisen weggenommen und er ließ mich
los.
"So ist es gut, Junge. Du hast es jetzt überstanden."
Benommen richtete ich mich auf.
"Ich weiß, das tut weh. Siehst du, ich trage
auch ein Branntzeichen. In ein paar Tagen
hört es auf zu brennen. Du kannst es aushalten, nicht wahr?"
Ich starrte ihn verwirrt an. Noch nie hatte
sich jemand dafür interessiert, ob ich etwas
aushalten kann oder nicht.
Nacheinander brachte er auch die anderen Jungen zum Brennen. Die größeren hatten sich längst wieder gefangen, als er sie zurückbrachte und hockten sich still wieder an ihren Platz. Wir Jungen aus den Stämmen hatten in unserem Leben so viele Schläge bekommen, daß wir es als selbstverständlich hinnahmen, daß wir immer wieder ohne besonderen Grund geschlagen oder sonstwie verletzt wurden.
Die Kleineren weinten länger. Der mit dem Narbengesicht trug sie auf den Armen zurück und versuchte sie zu trösten. Freilich hatte er nicht viel Erfolg, denn so ein Branntzeichen tut wirklich verteufelt weh. Aber er versuchte es wenigstens und streichelte sie. Meine Mutter hatte immer nur gesagt, daß ich selbst schuld bin, wenn mich jemand geschlagen hatte. Ich wußte plötzlich daß ich den mit dem vernarbten Gesicht mochte.
Danach führte er die Bauernjungen einzeln weg
- sie schrien und weinten mehr als wir - und
er brachte sie nicht zu uns zurück.
"Was wird mit den anderen gemacht?" fragte
ich.
"Sie werden kastriert. Sei froh, daß du das
schon hinter dir hast. Die Hälfte von ihnen
werden sterben, bevor drei Tage um sind."
antwortete er freundlich und legte mir sacht
die Hand auf die Schulter.
Das konnte ich mir vorstellen. Ich hatte ein
paar mal gesehen, wie Babys kastriert wurden.
Sie hatten immer tagelang geschrien und die
meisten von ihnen waren gestorben. Andererseits wunderte es mich überhaupt nicht. Alle
Sklavenjungen wurde schließlich kastriert, wie
ich immer gewußt hatte. Schließlich braucht
niemand Sklavenjungen und es war ihnen deshalb völlig egal ober einer stirbt. Bei den Bauernkindern waren sie wohl bisher nicht dazu
gekommen, weil sie ja noch nicht lange Sklaven waren.
"Was ist mit deinem Gesicht passiert?" fragte
ich.
"Ein Unfall. Als ich gebranntmarkt wurde, bin ich ins Feuer gefallen und ehe sie mich daraus retten konnten war mein halbes Gesicht völlig verkohlt. Ich war danach nicht mehr viel wert. Deshalb hat mich der Herr behalten, damit ich ihm hier bei der Arbeit helfe." antwortete er mir freundlich.
Sacht strich ich über die vernarbte Haut und
sagte:
"Das hat bestimmt sehr wehgetan."
"Ihm traten Tränen in die Augen, er schluckte
mehrfach. Ich dachte schon, ich hätte etwas
falsches gesagt, dann sagte er leise:
"Ich wäre am liebsten gestorben."
Ich streichelte weiter die vernarbte Seite seines Gesichts.
"Warum?"
"Wegen der Schmerzen. Und weil ich dann hier bleiben mußte, wo sie all diese Kinder umbringen. Und weil mich niemand mag."
Er weinte.
"Ich mag dich."
"Aber ich bin häßlich!"
"Ich mag dich. Du bist ein guter Mensch."
Bald darauf ging er weg, damit wir schlafen
konnten.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
Internetseite: https://www.kersti.de/,
Kersti_@gmx.de
Da ich es leider nie schaffe, alle Mails zu beantworten, schon mal
im voraus vielen Dank für all die netten Mails, die ich von
Lesern immer bekomme.
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