Auf dem Weg begegneten mir drei bewaffnete fremde Männer. Normalerweise hätte sie ein Krieger begleiten müssen. Als ich sie fragte, wer sie wären, griffen sie an. Ich war kleiner und schwächer, aber auch beweglicher und weit besser ausgebildet als sie. Ich hatte sie schnell besiegt. Nachher war ich ernsthaft besorgt: Es mußte schlimm stehen, wenn drei Fremde das Kriegerdorf ungehindert durchqueren oder umgehen konnten. Eigentlich gehörte ich zu den Kindern ins Felsennest. Doch dazu war es zu spät.
Ich holte meinen Bogen aus dem Dorf und schlich zu dem Versteck, das ich mir für solche Kämpfe gewählt hatte. Ich durfte noch nicht hinunter ins Kampfgetümmel, da ich meine volle Kraft und Größe noch nicht annähernd erreicht hatte. Die Älteren gingen dabei ein geringeres Risiko ein. Es waren mehr als doppelt so viele wie wir Krieger. Ich erschoß einige Feinde, noch bevor sie in den Kampf eingreifen konnten. Danach zielte ich auf jeden, bei dem ich keine Angst haben mußte, einen der Unseren stattdessen zu treffen. Dennoch drangen sie bis zum Dorf vor. Als sie aus meiner Pfeilschußweite kamen, rannte ich hinunter, zog mein Schwert und griff die Fremden von hinten an. Ich konnte gerade noch helfen, die letzten drei zu erledigen.
Einen nahmen wir nur gefangen.
"Rundon, schneid du." sagte der Anführer, der neben dem
Gefangenen am Boden kniete.
Er war verletzt, sah leichenblaß und erschöpft aus. Ich schnitt
dem Gefangenen das Ohr ab und heftete es an die Tür der
Versammlungshalle, wo schon viele Ohren besiegter Feinde hingen. Dann sagte
ihm der Anführer:
"Geh zu deinen Leuten und erzähl ihnen, was hier geschehen ist.
Selbst wenn ihr mit noch einmal so vielen wiederkommt, werdet ihr uns
nicht besiegen."
Ich löste die Fesseln. Benommen richtete der Gefangene sich auf und
griff nach seinem Ohr. Er sah sich um. Etwa die Hälfte der Erwachsenen
des Dorfes waren um uns versammelt, die meisten unverletzt. Unsicher sah er
mich an, dann verließ er durch den schweigenden Spalier der Krieger
und Kriegerinnen das Dorf.
"Wo sind die anderen?" fragte ich.
"Im Bauerndorf. Drei sind durchgebrochen." antwortete eine
ältere Kriegerin.
"Die sind tot. Sie sind mir begegnet." sagte ich.
Ich kniete neben dem Anführer nieder und sagte besorgt:
"Toris..."
Toris lächelte schwach und antwortete leise:
"Wir haben uns doch irgendwie schon verabschiedet."
Mir kamen die Tränen.
Die Heilerin kam. Toris verlangte:
"Ich will in der Versammlungshalle liegen, wo ich alle noch einmal
sehen kann."
"Nein, da hast du nicht genug Ruhe, um gesund zu werden."
widersprach die Heilerin.
"Ich sterbe sowieso. " sagte Toris ernst.
"Aber du..." setzte die Heilerin ein.
"Die Wunden sind tödlich." sagte Toris fest.
Die Heilerin sah ihn an. Toris erwiderte ihren Blick ruhig, bis sie die
Augen resigniert abwendete und den Kriegern, die neben uns standen befahl,
Toris in die Versammlungshalle zu bringen. Ich folgte ihnen und hielt Toris
Hand, während die Heilerin arbeitete. Toris weinte während der
Behandlung vor Schmerzen. Alles scheint ja viel mehr weh zu tun, wenn man
statt zu kämpfen stillhalten und sich möglichst entspannen
muß. Ich sah, daß der Gesichtsausdruck der Heilerin immer
verschlossener und ernster wurde. Schließlich packte sie ihre Sachen
zusammen und sagte seltsam barsch:
"Mehr kann ich nicht tun."
Toris öffnete kurz die Augen und lächelte ihr kaum merklich zu.
Er sah noch erschöpfter und blasser aus als vorher, aber er wirkte
auch gelöst und mit sich und der Welt in Frieden.
"Ich komme gleich zurück." sagte ich zu Toris.
Die Heilerin machte mir Sorgen. Ich folgte ihr hinaus und legte meine Hand
auf ihre Schultern. Leise fragte ich:
"Hatte Toris recht?"
"Womit?" fragte sie verständnislos.
"Daß er stirbt."
"Ja." sagte die Heilerin und begann zu weinen.
Ich legte meinen Arm um sie und fragte:
"Hast du noch Arbeit?"
Ich glaubte nicht daran. Am ersten Tag versorgt die Heilerin nur schwere
Wunden. Den Rest machen wir selber. Sonst würden die Verletzten beim
Warten unnötig viel Blut verlieren. Erst an den folgenden Tagen
kümmert sich die Heilerin um alle Verletzungen.
"Nein." antwortete die Heilerin unter Tränen.
"Dann komm." sagte ich und führte sie zu einer Bank.
"Warum muß Toris sterben." protestierte sie.
"Er ist alt. Er kann nicht mehr so gut kämpfen wie
früher. Er hat mir schon vor ein paar Tagen gesagt, daß er den
nächsten Kampf vermutlich nicht überleben wird." sagte
ich.
"Es ist so schrecklich", schluchzte sie, "Ihr Krieger sterbt
bevor ihr richtig erwachsen seid. Und dann diese Verletzungen!"
"Das ist Schicksal." sagte ich sanft.
"Schicksal, Schicksal, ihr Krieger mit eurer verdammten
Schicksalsergebenheit! Ich will nicht mitansehen wie ihr alle erschlagen
werdet!" schimpfte sie.
"Helia, wir leben in einer Welt, in der es verdammt schwer ist, auch
nur zu überleben. Wenn wir darüberhinaus noch irgendetwas Gutes
erreichen wollen, dann dürfen wir unsere Kräfte nicht darauf
verschwenden, uns über Dinge aufzuregen, die wir nicht ändern
können. Wir müssen uns auf das konzentrieren, wo wir etwas
erreichen können. Deshalb bist du doch Heilerin geworden, oder? Und
täusch dich nicht, deine Arbeit ist uns sehr wichtig."
"Ach Rundon, du bist immer so verdammt vernünftig."
"Nein, Helia, jeder ist einmal unvernünftig. Denk an den Bauern,
dem ich den Arm gebrochen habe."
"Das war ein Unfall."
"Ich hätte es vermeiden können. Ein Krieger sollte wissen,
wie gut er andere einschätzen kann."
Die Heilerin sah mich nachdenklich an. Sie schien mir widersprechen zu
wollen, ließ es aber doch. Schließlich sagte sie:
"Ich muß heim zu meiner Familie, sonst glauben sie, daß mir
etwas passiert ist."
Dann stand sie auf und ging. Sie wirkte viel entspannter als vorher.
Ich kehrte zurück zu Toris. Einige Krieger verzierten die Tür des Versammlungshauses schweigend mit den Ohren gefallener und inzwischen begrabener Feinde. Wir verstanden diese Fremden nicht, die offensichtlich kamen, weil sie sich totschlagen lassen wollten.
Als die Kinder kamen, waren wir Erwachsenen schon ums Feuer versammelt.
Jorisch stürmte auf mich zu und schluchzte:
"Ich dachte du bist tot."
Lächelnd nahm ich ihn in die Arme und antwortete flüsternd:
"Nein, ich bin nur ein bißchen zu spät gekommen um noch ins
Felsennest zu gehen. Ich habe mitgekämpft"
Toris, der Anführer überließ es meiner Mutter, die Toten
und Verletzten aufzuzählen. Acht Krieger und vier Kriegerinnen fehlten.
Die meisten waren tot. Meine Mutter beendete die Aufzählung mit den
Worten:
"Toris wird an seinen Verletzungen sterben."
In der Runde die eng aneinandergekuschelt um das Feuer saß, wurden
wieder einmal die Familiengruppen neu eingeteilt. Man hörte leises
Weinen. Irgendwann in einer Pause sagte ich:
"Schara, ich würde gerne zu deiner Familie gehören."
Schara sah mich erstaunt an und begann dann zu strahlen.
"Du bist mir willkommen." antwortete sie.
Ich lächelte voll Freude. Damit waren wir offiziell ein Paar. Obwohl
es streng genommen noch drei Tage dauern würde, bis ich eine solche
Entscheidung treffen durfte, erhob niemand Einwände.
Ganz zum Schluß fragte Jadra, meine Mutter:
"Und wer wird uns jetzt führen?"
Einen Augenblick herrschte Schweigen, ehe eine Kriegerin schließlich
sagte:
"Jadra."
"Jadra." wiederholte nach und nach jeder Erwachsene und jedes Kind,
nur ein dreijähriges Mädchen sagte: "Mama."
Wir sahen uns teils genervt, teil schmunzelnd an. Am Versammlungfeuer
durfte auch die Stimme des kleinsten Kindes nicht übergangen
werden.
"Warum willst du denn, daß deine Mama Anführerin wird?"
fragte ich.
"Mama ist lieb", antwortete sie.
"Willst du denn Anführerin werden", fragte ich die Mutter.
"Nein. Ich glaube Jadra kann das viel besser als ich", antwortete
sie.
"Na gut", antwortete das Mädchen, "wenn du das sagst, dann
darf auch Jadra Anführerin werden."
Ich atmete auf, denn der Beschluß mußte einstimmig gefällt
werden. Kinder sind manchmal schwer zu überzeugen.
"Toris, du hast ja noch gar nichts dazu gesagt!" fiel mir
plötzlich auf.
Toris öffnete die Augen, lächelte mir zu und meinte:
"Solange ich lebe, werdet ihr mit euren Problemen doch zu mir kommen.
Außerdem habt ihr die logische Wahl getroffen."
"Das stimmt", sagte ich, "wer nicht dich um Rat fragt, fragt
meine Mutter."
"Oder dich, Rundon. Die Kinder fragen dich." ergänzte
Toris.
Fassungslos starrte ich ihn an. Das war mir noch gar nicht aufgefallen.
Aber er hatte recht. Sie fragten mich. Oder Schara. Wieso gerade mich?
Als ich am nächsten Tag mit Toris allein war, sagte er mir:
"Weißt du, Rundon, ich habe mir immer gewünscht, dich in
einem echten Kampf zu erleben, bevor ich sterbe."
"Und?" fragte ich.
"Du kämpfst, wie ich gedacht habe. Du macht Dinge, für die
ich jedem anderen in deinem Alter tadeln würde, weil sie zu
gefährlich sind, doch du hast die nötigen Fähigkeiten.
Ich weiß jetzt, daß du alt werden wirst."
Ich zweifelte daran. Ein schlechter Krieger ist bald ein toter Krieger,
doch auch ein guter Krieger kann Pech haben.
"Rundon, ich hatte Angst, daß du an dem zerbrichst, was wir dir
zugemutet haben, als wir dir als zehnjährigem Jorisch zugeteilt
haben. Du warst so jung und so verantwortungsbewußt. Wir haben dir
zu wenig von deiner Kindheit gelassen. Doch danach bist du immer
eingesprungen, wenn eine Erwachsener für eine Aufgabe fehlte. Und
dann hattest du auch noch das Pech, daß du Koresch den Arm gebrochen
hast. Doch du bist an jeder Erfahrung gewachsen und hast trotz allem deine
Lebensfreude nicht verloren. Jetzt mache ich mir um Rikon mehr Sorgen als
um dich."
Ich verstand nicht wieso. Mit Rikon war doch alles in Ordnung, oder?
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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