Reinkarnationserinnerung - Ein Kriegerleben

FA16.

Probe des Urteils

Es war der vierte Tag unserer Reise. Die anderen gingen fort, um die Arbeit zu tun, die sie sich gesucht hatten. Ich bewachte den Wagen, versorgte das Pferd und bereitete das Essen vor. Der Anführer des Heeres kam mit einigen Männern seiner Garde auf mich zu und fragte:
"Willst du nicht arbeiten?"
"Nein. Ich bewache den Wagen." antwortete ich.
"Weißt du, was ich mit Kindern mache, die nicht arbeiten?" fragte er drohend.
Ich dachte daran, daß Geiseln getötet werden, wenn sie nicht arbeiten.
"Ja." antwortete ich ungerührt.
Den Wagen durfte ich mir nicht wegnehmen lassen. Ohne ihn als gemeinsamer Mittelpunkt unserer Kindergruppe, würde ich meine Aufgabe nicht erfüllen können.
"Wenn du nicht sofort gehst und etwas tust, töte ich dich." drohte er.
"Ich lasse den Wagen nicht unbewacht zurück." entgegnete ich kalt.
"Die können schlafen, wo sie arbeiten." sagte er.
"Da bin ich anderer Ansicht." anwortete ich ungerührt.

Der Anführer zog sein Schwert und schlug nach meinem Hals, überzeugt, ich könnte mich so schnell nicht wehren. Es landete drei Meter weiter im Staub. Hochmut ist ein schlechter Berater. Zuerst war er nur verblüfft. Dann wurde ihm mit Schrecken bewußt, daß ich immer noch ein Schwert auf ihn gerichtet hielt. Er faßte sich wieder, richtete sich stolz auf, noch bevor ich kalt sagte:
"Heb dein Schwert auf."
Der Anführer starrte mich erstaunt an und gehorchte. Hätte ich ihn getötet, hätte die Garde hätte mich nicht lebend davonkommen lassen. Wieder griff der Anführer mich an, diesmal aufmerksam, überlegt und mit einer tödlichen Entschlossenheit. Für einen Mann von Außerhalb war er ein guter Kämpfer. Trotz seiner überlegenen Größe und Kraft und obwohl ich ihn nicht ernsthaft verletzen durfte, entwaffnete ich ihn in wenigen Sekunden. Er sah mich fragend an, als ich ihm schweigend den Weg zu seiner Waffe freigab, überlegte wohl, was ich mit diesem Kampf bezweckte. Ich wußte es selber nicht. Entweder bot er mir einen Lösung an, oder ich würde sterben. Entspannt und vollkommen ausbalanziert, ganz mit mir in Frieden, wartete ich seinen nächsten Angriff ab. Noch zweimal entwaffnete ich ihn. Dann hatte sich etwas verändert. Kaum merklich, eigentlich unsichtbar, doch seinem Angriff fehlte die grimmige Härte, die Schärfe, die die vorherigen gehabt hatten. Ich blieb unbeweglich stehen und sah meinem Gegner in die Augen. Direkt an meinem Hals verharrte die tödliche Klinge. Ich wartete ab.
Sekundenlang standen wir da, sahen uns in die Augen, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Bis er plötzlich lächelte und fragte:
"Woher wußtest du, daß ich nicht zuschlagen würde?"
"Ein Krieger muß sich auf sein Urteilsvermögen verlassen können." antwortete ich mit unbewegten Gesicht.
Ich war mir nicht sicher gewesen. Und ich war noch zu angespannt, um mich über mein Überleben freuen zu können.

"Du bist ein Krieger. Ich teile dich der Garde zu."
Ich nickte. Etwas Besseres würde ich nicht aushandeln können.
"Dann mußt du jetzt mit uns üben, Junge." sagte der buntgekleidete Gardehauptmann.
Mir war klar, daß ich das tatsächlich mußte. Ich überlegte, wie ich den Wagen dennoch bewachen könnte. Da trat der Mann vor, der damals als Bote ins Kriegerdorf geschickt worden war und bot mir an:
"Junge, wenn du nichts dagegen hast, passe ich auf, daß niemand sich an euren Sachen vergreift."
Ich lächelte ihm zu und bedankte mich. Dann folgte ich dem Gardehauptmann, der seine Männer zusammentrommelte. Seine Leute schienen verblüfft. Dennoch folgten sie ohne Protest. Ich schloß daraus, daß die Befehle des Gardehauptmanns normalerweise so vernünftig waren, daß seine Leute ihnen, auch wenn sie seltsam schienen, vertrauten.

Schließlich standen die Mitglieder der Garde in einem großen Kreis abseits des Heerlagers und sahen ihren Hauptmann erwartungsvoll an. Der erklärte:
"Wir haben ein neues Mitglied aufzunehmen."
"Ein Kind?" fragte jemand ungläubig.
"Es ist Zeit ihn zu prüfen. Rundon, leg deine Waffen ab und tritt in den Kreis." fuhr der Gardehauptmann ungerührt fort.
Plötzlich lag eine Drohung in der Luft. Ich dachte darüber nach, während ich die Waffen ablegte und kam zu dem Schluß, daß, was immer auch kommen mochte, nicht gefährlich, höchstens unangenehm sein konnte. Ich würde es als Kampfübung betrachten und niemanden verletzen. Ich trat in den Kreis.

Von allen Seiten stürzten sich die Männer der Garde auf mich. Ich wehrte mich nach Leibeskräften, schlug und trat um mich und entwand mich immer wieder den fest zupackenden Händen der Gardemitglieder. Erst als ich schon ziemlich erschöpft war, gelang es einem der erwachsenen Männer, mich einige Minuten so festzuhalten, daß ich mich nicht mehr herauswinden konnte. Ich ließ den Kopf sinken, entspannte mich, um mich auszuruhen und wartete, daß er einen Fehler machte.

Doch er trat erst zurück, als jemand anders sagte:
"Du kannst ihn loslassen. Es ist alles bereit."
Ich richtete mich langsam auf. Über mir schwebte in den Händen des Gardehauptmanns ein Schwert. Das war zu theatralisch, um auf mich den Eindruck von Gefahr zu machen. Als es sich auf mich herabsenkte hob ich nur den Blick um dem Hauptmann in die Augen zu sehen und ließ zu, daß das Schwert meine Schultern berührte. Blut floß aus der Nase über mein Gesicht und ein Auge begann zuzuschwellen. Dafür wären meine Gegner bei einem Übungskampf zuhause getadelt worden. Die Augen sind verletzlich. Ich war nicht erschöpft genug, um in Tränen auszubrechen.
"Du hast gekämpft wie ein wahrer Krieger und bewiesen, daß du würdig bist, einer der unseren zu sein." sagte der Gardehauptmann feierlich. Er überreichte mir einen Gürtel mit den Abzeichen der Garde und sagte: "Trage es in Ehren."

"Ich habe nicht gekämpft", stellte ich richtig, "sonst hätte es Tote gegeben."
"Ist das dein Ernst?" fragte der Gardehauptmann fassungslos.
"Ja." antwortete ich knapp und ärgerte mich sofort über mich selbst.
Jede Fehleinschätzung des Feindes kann Leben retten.
"Bei jedem anderen würde ich das für Angeberei halten." sagte er nachdenklich.

Ich stand auf und klopfte mir die Erde von den Kleidern. Vielleicht war der Gardehauptmann kein Feind.
"Braucht ihr mich noch?" fragte ich.
Der Hauptmann lachte, klopfte mir auf die Schultern und sagte:
"Wenn du nichts dagegenhast, wollten wir dich jetzt in der Garde willkommenheißen. Ich bin stolz, dich in meiner Einheit zu haben."
Ich lächelte. Und war sofort von Männern umringt, die meine Tapferkeit lobten und mir sagten wie gut ich gekämpft hätte. Ich teilte ihre Meinung nicht. Kein Kind des Kriegervolkes hätte an meiner Stelle aufgegeben. Sonst wäre es mit der flachen Klinge verprügelt worden, bis es sich bequemte, sich wieder zu verteidigen - zumindest hatte ich als Kind immer diese Vorstellung gehabt. Mir wurde plötzlich klar, daß ich als Kampfwächter den Kampf nach wenigen Sekunden abgebrochen hätte. Ein Kind, das sich nicht wehrt, ist krank.

Nach dem kleinen, improvisierten Willkommensfest in den Zelten der Garde begleitete mich der Gardehauptmann zum Wagen zurück. Es war schon fast wieder Morgen. Zischend fuhren zwei Schwerter aus den Scheiden.
"Halt, wer da?" fragte eine scharfe Mädchenstimme. Schjerra.
"Rundon," antwortete ich, "alles in Ordnung. Hast du die Wachen aufgestellt?"
"Ja. Wer hätte es auch sonst machen sollen?" fragte sie.
Ich nickte. Von den Kriegerkindern war Schjerra am ehesten der Typ, der erkennt was zu tun ist und Befehle erteilt. Die zweite Wache war ein Bauernkind, das sich bewußt im Hintergrund hielt.

Mißbilligend betrachtete Schjerra mein Gesicht:
"Was hast du gemacht?"
"Eine Art Kampfübung." antwortete ich.
"Rauhe Sitten." tadelte Schjerra.
"Es ist nicht meine Aufgabe, die Sitten dieses Heeres zu ändern." entgegnete ich.
Sie nickte und sah fragend zu meinem Begleiter hin.
"Darf ich euch ein paar neugierige Fragen stellen, Kinder?" fragte der Gardehauptmann.
"Gerne. Komm mit ans Feuer." sagte ich.

Schjerra sah verwirrt aus, fachte aber schweigend das Feuer an, das vom Abendessen her noch schwach glimmte. Dann stellte sie den Topf mit dem Teewasser fürs Frühstück auf.

"Ich hatte gedacht, daß der zweite große Junge dein Stellvertreter wäre, Rundon."
"Wenn man Koresch mit den ganz Kleinen alleineließe, würde er alles angemessen ordnen, ausgenommen Dinge, die Kampf betreffen. Er ist kein Krieger." sagte ich.
"Aber Schjerra ist ein Krieger." stellte der Gardehauptmann fest.
"Schjerra ist eine Kriegerin." bestätigte ich.
"Dann stimmt es also, daß das Kriegerdorf eine Frau zur Anführerin hat?" fragte er.
"So ist es." bestätigte ich.
"Das muß eine ungewöhnliche Frau sein." meinte der Hauptmann.
"Niemand würde den gewöhnlichsten des Dorfes zum Anführer wählen." stellte ich fest.

Kersti


FA17. Kersti: Fortsetzung: Andere Geiseln
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FAI. Kersti: Inhaltsübersicht: Ein Kriegerleben
FA1. Kersti: Zum Anfang: Mein erster Kampf
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
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Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
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