"Seid ihr ein Paar? Nein, das kann nicht sein. Rundon war doch ein
Kind." fragte der Arzt.
"Wir hatten gerade geheiratet, wenige Tage bevor ich gegangen bin."
sagte ich.
"Und das andere Kind?"
"Der Vater ist tot." erklärte ich.
"Mit wem lebst du zusammen?" fragte ich Schara.
"Rikon.", antwortete sie, "Es wird ihm nicht gefallen,
daß du zurückgekommen bist. Er war vorher schon
eifersüchtig. Er liebt mich und ich liebe dich."
Ich nickte. Daraus würde Ärger entstehen. Rikon ist nicht sehr
vernünftig. Es würde ihm dennoch nichts anderes übrigbleiben,
als sich damit abzufinden.
"Mein Gott, heiratet ihr so schnell wieder?" fragte der Arzt
fassungslos.
"Unsere Gesetze verlangen, daß wir noch an dem Tag, an dem jemand
gefallen ist, beschließen wer jetzt die Aufgaben des zweiten
Elternteils übernimmt. Sonst hätten wir zu viele Kinder,
für die sich niemand wirklich verantwortlich fühlt.
Außerdem kann ein Mensch alleine Kinder nicht richtig
ausbilden." erklärte ich.
Der Arzt betrachtete den Armstumpf, wo meine Frau im Kampf die Hand
verloren hatte. Ich hatte ihm schon vieles über unser Volk
erzählt. Doch erst jetzt begriff er wirklich, wie unsere Realität
aussah. Er schluckte.
Schara wandte sich an den Arzt:
"Ich muß mich für unser Volk bei dir entschuldigen,
daß wir dir nicht erlauben können mit unseren Familien zu essen.
Sie sind in einem geheimen Schlupfwinkel. Wir können es uns nicht
leisten, einem Fremden seine Lage zu verraten. Es ist unser letzter
Schutz. Wir werden dich hier im Wachhaus bewirten."
"Schon gut. Das reicht für mich." erwiderte er.
"Ich muß jetzt mit den Kindern hoch, meinen Leuten berichten, was
ich in den letzten beiden Jahren gemacht habe. Ich werde dich heute Abend
noch besuchen." sagte ich.
Ich lief den altvertrauten Weg zum Felsennest hinauf, und rief zu den
Wachen hoch, daß sie die Strickleiter hinunterlassen sollten.
"Wer ist da?" fragte Rikon.
"Rundon." antwortete ich.
"Das kann nicht sein. Rundon ist tot." entgegnete er.
"Sehe ich so tot aus?" fragte ich herausfordernd.
"Wenn er noch leben würde, wäre er schon längst
zurückgekehrt!"
"Mach dich nicht lächerlich, Rikon. Du kennst mich doch." rief
ich.
"Laß sofort die Leiter herunter!" rief Schjerra hinauf.
Die anderen Kinder hinter mir murrten. Langsam und umständlich
bequemte Rikon sich, die Leiter zu holen und auseinanderzurollen. Er
brauchte länger dazu, als wir, um zu ihm hochzuklettern. Dann rollte
ich sie innerhalb von drei Sekunden wieder zusammen und verstaute sie auf
ihrem Platz.
"Seid ihrs wirklich?" fragte eine junge Frau - ich brauchte einige
Sekunden, um sie als Karim zu erkennen. Ihr Gesicht war sehr ernst und
hager geworden.
"Ja, Karim. Aber nicht alle. Elara ist tot."
Sie nickte sachlich. Sie hatte das Bauernmädchen nicht gekannt.
"Und die anderen leben alle noch?"
"Ja."
"Das hätte ich nicht zu hoffen gewagt."
Ein glückliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. Sie hatten uns also
alle schon längst aufgegeben. Ein Glück, daß ich nicht so
schnell aufgebe. Sonst wären wir jetzt wirklich tot.
"Kommt. Ihr müßt uns alles erzählen. Wir feiern ein
Freudenfest."
Karim hängte sich zwischen mir und Schjerra ein. Die anderen umgaben
uns in einer dichten Traube. Koresch ging voraus und sah sich um. Als
Bauernjunge hatte er die Höhlen noch nicht kennengelernt.
Im Kaminraum saßen Krieger um ein Feuer versammelt. Ich
grüßte verhalten.
"Wer ist das?" fragte ein Junge.
"Rundon." antwortete ich.
Plötzlich hatten wir die volle Aufmerksamkeit des Kreises. Meine
Mutter sah mich an.
"Sie sind es wirklich." sagte sie leise, tonlos.
Ich erwiderte ihren Blick. Sie hatte weiße Haare bekommen. Langsam
verbreitete sich ein Lächeln über ihr Gesicht.
"Willkommen zuhause, Kinder."
Sie stand auf und umarmte nacheinander jeden aus unserer Gruppe.
"Ihr Bauernkinder solltet sofort zu euren Eltern gehen und berichten,
was ihr in der Zwischenzeit erlebt habt. Sie werden euch sehen wollen,
weil ihr so lange weg wart. Rundon, du berichtest uns."
"Sind das alle Krieger?" fragte ich.
"Schara, Jorim und Tarej haben Wache. Die kleineren Kinder schlafen
schon. Sonst sind wir alle, die noch übrig sind." antwortete
meine Mutter.
Ich ging von Frau zu Frau - Männer gab es wenige, schaute ihnen
prüfend ins Gesicht und begrüßte jeden mit einer Umarmung.
Sie sahen entmutigt aus. Sie glaubten nicht mehr an sich. Schlecht.
"Gut dann will ich euch erzählen, was wir in den letzten zwei
Jahren gemacht haben..." begann ich.
Ich erzählte von meinem Kampf mit dem Heerführer, der dazu
führte, daß ich der Garde zugeteilt wurde. Vom Gardeoffizier,
der mich zwar in vielen Dingen unterstützte, aber mich auch anderthalb
Jahre lang daran hinderte, mit den Kindern zu fliehen. Von Elaras Tod durch
Vergewaltigung und wie Schjerra dafür bestraft wurde, daß sie es
nicht zugelassen hat, daß ein Mann mit ihr dasselbe tat. Vor allem
aber sagte ich: Seht, die Lage war aussichtslos - aber wir sind
zurückgekehrt. Der Arzt war schon längst eingeschlafen, als ich
zu ihm in das leerstehende Haus zurückkehrte.
"Rundon? Was machst du denn hier?"
Verschlafen öffnete ich die Augen. Wo war ich? Ach ja, ich hatte mich
neben dem Arzt schlafen gelegt.
"Schlafen. Sieht man das nicht?"
Er lachte.
"Aber warum schläft du hier und nicht bei deiner Familie?"
"Ich hatte dir versprochen, daß ich hierherkomme und mit dir
rede, sobald ich mit dem Bericht fertig bin. Du hast schon geschlafen.
Also reden wir jetzt."
"Und wie war's?"
"Schlecht. Die Krieger sind entmutigt. Wie das Heer, als wir
flohen." antwortete ich.
"Aber das Problem kriegst du in den Griff, wie?" fragte er.
"Ja. Und ich weiß auch schon wie." sagte ich.
"Ich weiß die Lösung für euer Kinderproblem." sagte
er.
"Ja? Sag!"
"Nein. Warte einfach. Ich reise heute ab und bereite alles vor. Wenn
ich recht habe, werdet ihr bald genug Kinder haben."
Sobald der Arzt das leerstehende Kriegerdorf verlassen hatte, kehrte ich
zurück ins Felsennest und ging hinunter in die Höhlen, die das
Bauernvolk bewohnte. Auch die Bauern sahen entmutigt aus. Ich sagte
Koresch, daß er alle Bauernkinder zusammentrommeln sollte, die
mit uns beiden gereist waren. Ich selbst holte die Kriegerkinder und wir
trafen uns auf einer einsamen Wiese draußen in den Bergen. Zu
meiner Freude trugen auch die Bauernkinder noch ihre Schwerter. Ja, die
letzten beiden Jahre hatten uns zu einer verschworenen kleinen Gemeinschaft
zusammengeschweißt.
"Ihr habt gesehen wie es hier zugeht. Die Dörfer sind nicht mehr,
was sie vor zwei Jahren waren. Die Krieger haben die Wache aufgegeben. Wir
könnten uns damit abfinden - oder aber wir können alle Krieger
werden, und unsere Dörfer wieder zu dem machen, was wir einmal waren.
Seid ihr dazu bereit?"
"Ja. Ich bin bereit." sagte Koresch.
"Ja." sagten auch die anderen, jeder einzeln.
Wir waren keine große Verstärkung für die Krieger. Aber
meiner Berechnung nach waren wir genug, daß es funktionieren
konnte.
Krieger- und Bauerndorf von unserem Plan zu
überzeugen dauerte länger. Im Endeffekt haben
wir sie beinahe erpreßt, indem wir sagten:
"Ihr könnt machen, was ihr wollt. Aber wir wohnen von heute ab im
Kriegerdorf."
Keiner wollte uns dort ohne erwachsenen Schutz schlafen lassen. Also war
das Kriegerdorf wieder bewohnt. Während im Kriegerdorf wieder der
normale Alltag sich einspielte, gingen wir neunzehn die Räuber jagen,
die sich in unserem Tal eingenistet hatten, als der Weg nicht bewacht war.
Nach vier Wochen hatten wir den letzten gefangen und fortgejagt.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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