Wir nahmen einander gegenüber Aufstellung und begannen zu kämpfen. Die vorhergehende Kampfübung hatte mich nicht vollkommen erschöpft, doch war ich müde genug, um nicht mehr so gut kämpfen zu können wie Rikon. Mehrmals traf mich die flache Klinge. Ich wich ein wenig zurück und griff dann selber an. Meine Hiebe hatten nicht mehr die gewohnte Durchschlagkraft. Rikon wehrte sie mühelos ab und schlug zu. Mich traf die scharfe Seite der Klinge und hinterließ eine blutige Spur auf Arm und Brustkorb. Rikons Augen blitzten triumphierend und er griff mich noch härter an, als er das sah. Ich war entsetzt. Das war keine Kampfübung. Wollte er mich umbringen oder nur verstümmeln? Egal - ich mußte mich verteidigen. Eine tiefe Traurigkeit erfüllte mich. Etwas rastete ein, brachte mich ins Gleichgewicht. Rikon schien sich in Zeitlupe zu bewegen. Mein Geist war hellwach, klar, nahm jede Einzelheit meiner Umgebung auf. Ich wurde eins mit Rikon. Er wollte mich zum Krüppel machen. Das würde ich nicht zulassen. Ich war zutiefst traurig mit meinem alten, geliebten Spielkameraden in einen solchen Kampf verwickelt zu sein. Ich reagierte auf seine Angriffe, bevor er begann sie auszuführen, tanzte einen wunderschönen, ausgewogenen Tanz gegen meinen ausgeruhten Gegner und holte aus meinem erschöpften Körper die optimale Leistung. Ich wehrte harte, verbitterte Hiebe ab und stieß gnadenlos zu, als er mir die Gelegenheit dazu gab. Ich traf ihn mitten in die Brust, sah sein erstauntes, schmerzverzerrtes Gesicht als er sterbend zu Boden sank, ließ die Waffe fallen und kniete neben ihm nieder.
"Rikon, mein Freund, warum mußtest du das tun?" fragte
ich.
Liebevoll nahm ich ihn in die Arme, streichelte ihn, weinte um ihn. Er sah
mich an - und ein Ausdruck von Verunderung erschien auf seinem Gesicht.
Hatte er nicht gewußt, wie sehr ich ihn liebte?
Als er schließlich tot war, schloß ich seine Augen, setzte mich neben ihn und weinte lange. Warum hatte er mich verletzen wollen? Was hatte ich ihm angetan, daß er auf eine so unfaßliche Idee kam? Er war mein bester Freund gewesen, als wir beide noch Kinder waren. Unser Dorf hatte damals halb so viele Einwohner wie heute. Der Not gehorchend hatte ich sehr früh Erwachsenenaufgaben übernehmen müssen. Ich lernte, was Verantwortung bedeutet. Auch Rikon tat Arbeit, die sonst Erwachsene taten. Doch er blieb ein Kind. Er machte sich keine Gedanken über größere Zusammenhänge und die Zukunft. Ich dagegen begann den Erwachsenen zu widersprechen, vertrat meine Meinung und bekam immer öfter Recht. Daß das Dorf heute doppelt so groß ist wie damals, daß uns heute nicht ständig die Angst quält, daß wir nach und nach ausgerottet werden könnten, ist zum Teil mein Verdienst. Die Pflichten, die mir das Schicksal einbrachte, hätte Rikon nicht erfüllen können und wollen. Die Angst und Verantwortung, die damit verbunden waren, hätte er nicht freiwillig ertragen. Aber die Achtung, die ich genoß, hatte ihn mit Neid erfüllt. Ich hatte ihn immer mehr links liegenlassen, da ich mit seiner naiven Weltsicht nicht viel hatte anfangen können. Er hatte nicht meine Charakterstärke, hatte sie nie gehabt, war nicht fähig, so viel zu verkraften, wie ich. Hatte er zuwenig Liebe bekommen und mich deshalb angegriffen? Ich hatte ein quälend schlechtes Gewissen. Wenn es so war, war es zu spät, den Fehler wiedergutzumachen. Er hatte mich ernsthaft angegriffen und ich hatte das einzige getan, was mir übrigblieb: Ich hatte ihn getötet. Krieger kennen keine Gnade.
Zutiefst Niedergeschlagen ging ich zum Dorf, suchte meine Mutter, unsere
Anführerin auf und sagte ihr:
"Ich muß dir etwas erzählen. Alleine."
In meinem Zimmer erzählte ich, was geschehen war.
"Weißt du, was das bedeutet?" fragte meine Mutter. Sie war
blaß geworden.
"Ja, ich weiß, was das bedeutet", antwortete ich fest,
"Ich frage mich, ob ich irgendetwas hätte tun können, um
das zu verhindern. Vielleicht hätte ich mich früher mehr um ihn
kümmern müssen."
"Das frage ich mich auch immer, wenn etwas schief gelaufen ist. Ich
weiß nicht, ob es etwas gebracht hätte. Ich weiß nicht,
ob alle Liebe der Welt gereicht hätte, um das zu verhindern. Oh
Rundon, warum mußte das passieren!"
Ich zuckte mit den Schultern: "Schicksal."
Dann befahl sie mir: "Du wartest hier."
Ich nickte, sie ging und ich legte mich auf mein Bett. Ich fühlte
mich innerlich wie erstarrt.
Abends, als die tägliche Ratsversammlung schon längst begonnen
hatte, holte mich ein Kriegermädchen ab und fragte neugierig, was
geschehen sei. Ich lächelte:
"Wart's ab. Ich werde es gleich erzählen."
Ich folgte ihr in die Versammlungshalle, freute mich, daß sie anders
als in meiner Kindheit richtig voll war und sagte:
"Ich muß euch eine Geschichte erzählen."
Ich redete ruhig, erzählte die Ereignisse so, daß niemand zu
früh das Ende erraten konnte. So wie eine Geschichte erzählt
gehört. Als ich endete, herrschte Totenstille. Alle waren bis ins
Mark erschüttert und entsetzt. Fassungslos bat jemand:
"Sag, daß das nicht wahr ist."
"Es ist wahr." widersprach ich.
"Sag, daß das nicht wahr ist!" forderte Koresch.
"Es ist wahr." anwortete ich.
"Sag daß das nicht wahr ist." forderte Schara.
Traurig mußterte ich meine Frau und wiederholte fest:
"Es ist wahr."
Sie brach in Tränen aus. Sie war nicht die einzige. Ich wurde geliebt
im Kriegervolk, Rikons Freunde weinten, ich auch. Jeder wußte, wie
das Urteil lauten würde. Es brach meiner Mutter fast das Herz, sagen
zu müssen:
"Rundon hat einen der Unseren erschlagen. Es gibt auf der Welt nichts,
das eine solche Tat rechtfertigen könnte. Wer das tut, gehört
nicht mehr zu uns. Morgen mittag mußt du das Dorf verlassen,
Rundon. Geh."
Ich nickte und verließ die Versammlungshalle. Alles, was ich auf
dieser Welt liebte, meine Freunde, meine Frau, meine drei eigenen und
sieben angenommenen Kinder, das geliebte Dorf, das ohne meine jahrelange
Arbeit nicht in dieser Form existieren würde, alles mußte
ich verlassen. Für mich wäre es einfacher gewesen, zu sterben.
Hinter mir hörte ich Kinder gegen diese harte Strafe protestieren. Ich
hätte, wenn ich selber das Urteil über mich hätte sprechen
müssen, mich selbst verbannt. Ich weinte.
Spät am Abend kam Schara zu mir. Sie setzte sich neben mein Bett und
fragte leise:
"Was wirst du jetzt tun?"
"Ich weiß es nicht." antwortete ich.
"Wohin wirst du gehen?"
"Ich weiß es nicht."
"Wovon willst du leben?"
"Ich weiß es nicht. Schara, das einzige, was ich je gelernt
habe, ist kämpfen. Ich beherrsche nicht einmal die einfachsten
Arbeiten, die jedes Bauernkind lernt, bevor es fünf ist. Die, die
draußen kämpfen, gehören zum Adel und pressen das Volk
aus, bringen Bauern und ihr eigenes Volk um. Ich weiß keine
moralisch vertretbare Arbeit, mit der ich meinen Lebensunterhalt
verdienen könnte. Ich würde lieber sterben, als gegen die
Gesetze des Kriegervolkes verstoßen. Deshalb fürchte ich,
daß ich bald sterben werde."
"Karia, die, lange bevor wir geboren wurden, einen der Unseren
umgebracht hatte, soll Selbstmord begangen haben, als sie verbannt
wurde." sagte Schara.
"Ja. Wir sind bemerkenswert unfähig, ohne unser Dorf zu
existieren. Ich habe zwei Jahre außerhalb verbracht, dennoch
weiß ich jetzt nichts mit meinem Leben anzufangen. Nein, ich begehe
nicht Selbstmord, aber ich habe auch keine Hoffnung, daß mein
weiteres Leben es wert sein könnte, gelebt zu werden. Wir sind
innerlich nicht frei. Wir werden zu Kriegern erzogen und niemand
läßt uns die Wahl, etwas anderes zu werden. Als Kind habe ich
nicht begriffen, warum Toris, unser damaliger Anführer, das nicht
guthieß, sagte: ,Freiheit ist ein hohes Gut'. Jetzt weiß ich
es." anwortete ich ernst.
"Ich will, daß du unser Familienpferd mitnimmst. Es gibt kein
Gesetz, das uns ein solches Geschenk verbieten würde. Ich packe
für dich. Ein Teil von mir wird mit dir gehen." ihre Stimme
klang seltsam hart.
Ich nickte stumm. Dieselben unnachgiebigen Gesetze, die meine Verbannung
vorschrieben, befahlen ihr, zu bleiben. Sie war Mutter von fünf
eigenen und ebensovielen angenommenen Kindern und die Frau, die
wahrscheinlich statt meiner zur Anführerin gewählt würde.
Es stand jetzt schon fest, wer ihr bei der Erziehung unserer Kinder zur
Seite stehen würde.
"Schara, meine Liebe." sagte ich leise und zog sie an mich.
Liebevoll nahm ich den Stumpf, wo ihr einst im Kampf die Hand abgeschlagen
wurde und die verbliebene Hand, streichelte sie sanft. Sie brach in
Tränen aus. Genau wie ich neigte sie dazu, ohne Protest ihr eigenes
Wohl dem des Dorfes zu opfern. Doch wie lange hält ein Mensch das
aus? Lange streichelte ich ihr feines, schwarzes Haar, ehe sie
schließlich hinausging, um zu packen. Sie war schwanger. Das Kind
würde ich nicht mehr kennenlernen. Wir beiden hatten uns eine zweite
Tochter gewünscht.
Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Innerhalb eines Tages, war ich vom angesehensten Mann des Dorfes zum Ausgestoßenen geworden. Diesen Schlag konnte ich so schnell nicht verkraften. Ich weiß nicht, ob ich ihn in jenem Leben überhaupt verkraftet habe.
Am nächsten Morgen kam Koresch herein. Der ehemalige Bauernjunge, der
erst als Erwachsener zum Krieger geworden war, sagte eindringlich:
"Du darfst nicht gehen, Rundon. Wir brauchen dich hier."
Welch verlockendes Angebot! Sie sahen in mir einen Ersatz-Anführer
und wollten das Urteil meiner Mutter nicht akzeptieren. Doch wenn ich es
mir genau vorstellte, wollte es mir nicht mehr schmecken.
"Warum kommst du zu mir? Soll ich meine eigene Strafe festlegen?"
fragte ich spöttisch.
Als Anführer hätte ich das Urteil tatsächlich selbst
sprechen müssen. Wahrscheinlich waren sie mit derselben Bitte zu
Schara gegangen, die dieselbe Antwort gegeben hatte, wie ich sie nun geben
mußte. Wußten sie nicht, daß ich selbst der
härteste Verfechter unserer Gesetze war? Lange redete ich auf Koresch
ein, bis er schließlich zähneknirschend meine Strafe
akzeptierte. Bald darauf kam Schara mit den Kindern und sagte, daß
das Pferd gesattelt draußen wartete. Weinend verabschiedete
ich mich von ihnen.
"Du mußt eine Rede halten. Sie planen einen Aufstand." meinte
Schara zu mir.
Ich wünschte mir sehnlichst, weit, weit fort zu sein, um nicht noch
öfter ein Urteil verteidigen zu müssen, das mir das Herz brach.
Ich sammelte mich und ging hinaus.
"Bleib hier." riefen mir die Menschen entgegen. Es waren nicht
alle.
"Wenn Rikon mich besiegt hätte, hättet ihr IRGENDEINE
Entschuldigung für den Mord an mir akzeptiert?" fragte ich
laut.
Die Leute reagierten bestürzt, meinten, daß das etwas ganz
anderes sei.
"Hättet ihr von IHM die Entschuldigung akzeptiert, daß ich
ihn zuerst angegriffen hätte?" fragte ich.
Totenstille. Natürlich nicht. Sie hätten ihm nicht einmal
geglaubt.
"Ich habe einen der unseren getötet. Es ist nicht wichtig,
daß mir keine Wahl blieb, daß ich mich wehren mußte. Es
zählt nicht, daß Rikon mich absichtlich verletzt hatte. Es
ändert nichts, daß jeder in mir den zukünftigen
Anführer sieht. Ich habe Rikon ermordet, meinen Freund! Wo
kämen wir hin, wenn für die seelisch starken, beliebten Krieger
andere Gesetze gälten, als für die weniger beliebten? Wenn ich
ungestraft morden dürfte, wäre das Kriegerdorf nicht besser als
eine Räuberbande von Außerhalb!" rief ich zornig, stieg
aufs Pferd und ritt im Galopp davon.
Ich fühlte mich wie durch den Fleischwolf gedreht. Ich weinte und
zitterte am ganzen Leibe.
Krieger kennen keine Gnade. Nicht einmal mit sich selbst.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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