Reinkarnationserinnerung - Ein Kriegerleben

FA22.

Krieger kennen keine Gnade

An einem schönen Sommertag, ich hatte gerade eine mehrstündige Kampfübung hinter mich gebracht, kam mein alter Freund Rikon auf mich zu und fragte, ob er nicht wie in alten Zeiten mit mir zusammen in der Wildnis üben könne. Ich stimmte erfreut zu. Rikon war in den letzten Jahren mir gegenüber kalt und abweisend geworden. Mich hatte das sehr betroffen und traurig gemacht. Ich folgte ihm zu einem schönen, einsam gelegenen Tal in den Bergen.

Wir nahmen einander gegenüber Aufstellung und begannen zu kämpfen. Die vorhergehende Kampfübung hatte mich nicht vollkommen erschöpft, doch war ich müde genug, um nicht mehr so gut kämpfen zu können wie Rikon. Mehrmals traf mich die flache Klinge. Ich wich ein wenig zurück und griff dann selber an. Meine Hiebe hatten nicht mehr die gewohnte Durchschlagkraft. Rikon wehrte sie mühelos ab und schlug zu. Mich traf die scharfe Seite der Klinge und hinterließ eine blutige Spur auf Arm und Brustkorb. Rikons Augen blitzten triumphierend und er griff mich noch härter an, als er das sah. Ich war entsetzt. Das war keine Kampfübung. Wollte er mich umbringen oder nur verstümmeln? Egal - ich mußte mich verteidigen. Eine tiefe Traurigkeit erfüllte mich. Etwas rastete ein, brachte mich ins Gleichgewicht. Rikon schien sich in Zeitlupe zu bewegen. Mein Geist war hellwach, klar, nahm jede Einzelheit meiner Umgebung auf. Ich wurde eins mit Rikon. Er wollte mich zum Krüppel machen. Das würde ich nicht zulassen. Ich war zutiefst traurig mit meinem alten, geliebten Spielkameraden in einen solchen Kampf verwickelt zu sein. Ich reagierte auf seine Angriffe, bevor er begann sie auszuführen, tanzte einen wunderschönen, ausgewogenen Tanz gegen meinen ausgeruhten Gegner und holte aus meinem erschöpften Körper die optimale Leistung. Ich wehrte harte, verbitterte Hiebe ab und stieß gnadenlos zu, als er mir die Gelegenheit dazu gab. Ich traf ihn mitten in die Brust, sah sein erstauntes, schmerzverzerrtes Gesicht als er sterbend zu Boden sank, ließ die Waffe fallen und kniete neben ihm nieder.

"Rikon, mein Freund, warum mußtest du das tun?" fragte ich.
Liebevoll nahm ich ihn in die Arme, streichelte ihn, weinte um ihn. Er sah mich an - und ein Ausdruck von Verunderung erschien auf seinem Gesicht. Hatte er nicht gewußt, wie sehr ich ihn liebte?

Als er schließlich tot war, schloß ich seine Augen, setzte mich neben ihn und weinte lange. Warum hatte er mich verletzen wollen? Was hatte ich ihm angetan, daß er auf eine so unfaßliche Idee kam? Er war mein bester Freund gewesen, als wir beide noch Kinder waren. Unser Dorf hatte damals halb so viele Einwohner wie heute. Der Not gehorchend hatte ich sehr früh Erwachsenenaufgaben übernehmen müssen. Ich lernte, was Verantwortung bedeutet. Auch Rikon tat Arbeit, die sonst Erwachsene taten. Doch er blieb ein Kind. Er machte sich keine Gedanken über größere Zusammenhänge und die Zukunft. Ich dagegen begann den Erwachsenen zu widersprechen, vertrat meine Meinung und bekam immer öfter Recht. Daß das Dorf heute doppelt so groß ist wie damals, daß uns heute nicht ständig die Angst quält, daß wir nach und nach ausgerottet werden könnten, ist zum Teil mein Verdienst. Die Pflichten, die mir das Schicksal einbrachte, hätte Rikon nicht erfüllen können und wollen. Die Angst und Verantwortung, die damit verbunden waren, hätte er nicht freiwillig ertragen. Aber die Achtung, die ich genoß, hatte ihn mit Neid erfüllt. Ich hatte ihn immer mehr links liegenlassen, da ich mit seiner naiven Weltsicht nicht viel hatte anfangen können. Er hatte nicht meine Charakterstärke, hatte sie nie gehabt, war nicht fähig, so viel zu verkraften, wie ich. Hatte er zuwenig Liebe bekommen und mich deshalb angegriffen? Ich hatte ein quälend schlechtes Gewissen. Wenn es so war, war es zu spät, den Fehler wiedergutzumachen. Er hatte mich ernsthaft angegriffen und ich hatte das einzige getan, was mir übrigblieb: Ich hatte ihn getötet. Krieger kennen keine Gnade.

Zutiefst Niedergeschlagen ging ich zum Dorf, suchte meine Mutter, unsere Anführerin auf und sagte ihr:
"Ich muß dir etwas erzählen. Alleine."
In meinem Zimmer erzählte ich, was geschehen war.
"Weißt du, was das bedeutet?" fragte meine Mutter. Sie war blaß geworden.
"Ja, ich weiß, was das bedeutet", antwortete ich fest, "Ich frage mich, ob ich irgendetwas hätte tun können, um das zu verhindern. Vielleicht hätte ich mich früher mehr um ihn kümmern müssen."
"Das frage ich mich auch immer, wenn etwas schief gelaufen ist. Ich weiß nicht, ob es etwas gebracht hätte. Ich weiß nicht, ob alle Liebe der Welt gereicht hätte, um das zu verhindern. Oh Rundon, warum mußte das passieren!"
Ich zuckte mit den Schultern: "Schicksal."
Dann befahl sie mir: "Du wartest hier."
Ich nickte, sie ging und ich legte mich auf mein Bett. Ich fühlte mich innerlich wie erstarrt.

Abends, als die tägliche Ratsversammlung schon längst begonnen hatte, holte mich ein Kriegermädchen ab und fragte neugierig, was geschehen sei. Ich lächelte:
"Wart's ab. Ich werde es gleich erzählen."
Ich folgte ihr in die Versammlungshalle, freute mich, daß sie anders als in meiner Kindheit richtig voll war und sagte:
"Ich muß euch eine Geschichte erzählen."
Ich redete ruhig, erzählte die Ereignisse so, daß niemand zu früh das Ende erraten konnte. So wie eine Geschichte erzählt gehört. Als ich endete, herrschte Totenstille. Alle waren bis ins Mark erschüttert und entsetzt. Fassungslos bat jemand:
"Sag, daß das nicht wahr ist."
"Es ist wahr." widersprach ich.
"Sag, daß das nicht wahr ist!" forderte Koresch.
"Es ist wahr." anwortete ich.
"Sag daß das nicht wahr ist." forderte Schara.
Traurig mußterte ich meine Frau und wiederholte fest:
"Es ist wahr."
Sie brach in Tränen aus. Sie war nicht die einzige. Ich wurde geliebt im Kriegervolk, Rikons Freunde weinten, ich auch. Jeder wußte, wie das Urteil lauten würde. Es brach meiner Mutter fast das Herz, sagen zu müssen:
"Rundon hat einen der Unseren erschlagen. Es gibt auf der Welt nichts, das eine solche Tat rechtfertigen könnte. Wer das tut, gehört nicht mehr zu uns. Morgen mittag mußt du das Dorf verlassen, Rundon. Geh."
Ich nickte und verließ die Versammlungshalle. Alles, was ich auf dieser Welt liebte, meine Freunde, meine Frau, meine drei eigenen und sieben angenommenen Kinder, das geliebte Dorf, das ohne meine jahrelange Arbeit nicht in dieser Form existieren würde, alles mußte ich verlassen. Für mich wäre es einfacher gewesen, zu sterben. Hinter mir hörte ich Kinder gegen diese harte Strafe protestieren. Ich hätte, wenn ich selber das Urteil über mich hätte sprechen müssen, mich selbst verbannt. Ich weinte.

Spät am Abend kam Schara zu mir. Sie setzte sich neben mein Bett und fragte leise:
"Was wirst du jetzt tun?"
"Ich weiß es nicht." antwortete ich.
"Wohin wirst du gehen?"
"Ich weiß es nicht."
"Wovon willst du leben?"
"Ich weiß es nicht. Schara, das einzige, was ich je gelernt habe, ist kämpfen. Ich beherrsche nicht einmal die einfachsten Arbeiten, die jedes Bauernkind lernt, bevor es fünf ist. Die, die draußen kämpfen, gehören zum Adel und pressen das Volk aus, bringen Bauern und ihr eigenes Volk um. Ich weiß keine moralisch vertretbare Arbeit, mit der ich meinen Lebensunterhalt verdienen könnte. Ich würde lieber sterben, als gegen die Gesetze des Kriegervolkes verstoßen. Deshalb fürchte ich, daß ich bald sterben werde."
"Karia, die, lange bevor wir geboren wurden, einen der Unseren umgebracht hatte, soll Selbstmord begangen haben, als sie verbannt wurde." sagte Schara.
"Ja. Wir sind bemerkenswert unfähig, ohne unser Dorf zu existieren. Ich habe zwei Jahre außerhalb verbracht, dennoch weiß ich jetzt nichts mit meinem Leben anzufangen. Nein, ich begehe nicht Selbstmord, aber ich habe auch keine Hoffnung, daß mein weiteres Leben es wert sein könnte, gelebt zu werden. Wir sind innerlich nicht frei. Wir werden zu Kriegern erzogen und niemand läßt uns die Wahl, etwas anderes zu werden. Als Kind habe ich nicht begriffen, warum Toris, unser damaliger Anführer, das nicht guthieß, sagte: ,Freiheit ist ein hohes Gut'. Jetzt weiß ich es." anwortete ich ernst.
"Ich will, daß du unser Familienpferd mitnimmst. Es gibt kein Gesetz, das uns ein solches Geschenk verbieten würde. Ich packe für dich. Ein Teil von mir wird mit dir gehen." ihre Stimme klang seltsam hart.
Ich nickte stumm. Dieselben unnachgiebigen Gesetze, die meine Verbannung vorschrieben, befahlen ihr, zu bleiben. Sie war Mutter von fünf eigenen und ebensovielen angenommenen Kindern und die Frau, die wahrscheinlich statt meiner zur Anführerin gewählt würde. Es stand jetzt schon fest, wer ihr bei der Erziehung unserer Kinder zur Seite stehen würde.

"Schara, meine Liebe." sagte ich leise und zog sie an mich.
Liebevoll nahm ich den Stumpf, wo ihr einst im Kampf die Hand abgeschlagen wurde und die verbliebene Hand, streichelte sie sanft. Sie brach in Tränen aus. Genau wie ich neigte sie dazu, ohne Protest ihr eigenes Wohl dem des Dorfes zu opfern. Doch wie lange hält ein Mensch das aus? Lange streichelte ich ihr feines, schwarzes Haar, ehe sie schließlich hinausging, um zu packen. Sie war schwanger. Das Kind würde ich nicht mehr kennenlernen. Wir beiden hatten uns eine zweite Tochter gewünscht.

Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Innerhalb eines Tages, war ich vom angesehensten Mann des Dorfes zum Ausgestoßenen geworden. Diesen Schlag konnte ich so schnell nicht verkraften. Ich weiß nicht, ob ich ihn in jenem Leben überhaupt verkraftet habe.

Am nächsten Morgen kam Koresch herein. Der ehemalige Bauernjunge, der erst als Erwachsener zum Krieger geworden war, sagte eindringlich:
"Du darfst nicht gehen, Rundon. Wir brauchen dich hier."
Welch verlockendes Angebot! Sie sahen in mir einen Ersatz-Anführer und wollten das Urteil meiner Mutter nicht akzeptieren. Doch wenn ich es mir genau vorstellte, wollte es mir nicht mehr schmecken.
"Warum kommst du zu mir? Soll ich meine eigene Strafe festlegen?" fragte ich spöttisch.
Als Anführer hätte ich das Urteil tatsächlich selbst sprechen müssen. Wahrscheinlich waren sie mit derselben Bitte zu Schara gegangen, die dieselbe Antwort gegeben hatte, wie ich sie nun geben mußte. Wußten sie nicht, daß ich selbst der härteste Verfechter unserer Gesetze war? Lange redete ich auf Koresch ein, bis er schließlich zähneknirschend meine Strafe akzeptierte. Bald darauf kam Schara mit den Kindern und sagte, daß das Pferd gesattelt draußen wartete. Weinend verabschiedete ich mich von ihnen.

"Du mußt eine Rede halten. Sie planen einen Aufstand." meinte Schara zu mir.
Ich wünschte mir sehnlichst, weit, weit fort zu sein, um nicht noch öfter ein Urteil verteidigen zu müssen, das mir das Herz brach. Ich sammelte mich und ging hinaus.
"Bleib hier." riefen mir die Menschen entgegen. Es waren nicht alle.
"Wenn Rikon mich besiegt hätte, hättet ihr IRGENDEINE Entschuldigung für den Mord an mir akzeptiert?" fragte ich laut.
Die Leute reagierten bestürzt, meinten, daß das etwas ganz anderes sei.
"Hättet ihr von IHM die Entschuldigung akzeptiert, daß ich ihn zuerst angegriffen hätte?" fragte ich.
Totenstille. Natürlich nicht. Sie hätten ihm nicht einmal geglaubt.
"Ich habe einen der unseren getötet. Es ist nicht wichtig, daß mir keine Wahl blieb, daß ich mich wehren mußte. Es zählt nicht, daß Rikon mich absichtlich verletzt hatte. Es ändert nichts, daß jeder in mir den zukünftigen Anführer sieht. Ich habe Rikon ermordet, meinen Freund! Wo kämen wir hin, wenn für die seelisch starken, beliebten Krieger andere Gesetze gälten, als für die weniger beliebten? Wenn ich ungestraft morden dürfte, wäre das Kriegerdorf nicht besser als eine Räuberbande von Außerhalb!" rief ich zornig, stieg aufs Pferd und ritt im Galopp davon.
Ich fühlte mich wie durch den Fleischwolf gedreht. Ich weinte und zitterte am ganzen Leibe.

Krieger kennen keine Gnade. Nicht einmal mit sich selbst.

Kersti


FA23. Kersti: Fortsetzung: Ausserhalb
FA21. Kersti: Voriges: Woher Kinder kommen
FAI. Kersti: Inhaltsübersicht: Ein Kriegerleben
FA1. Kersti: Zum Anfang: Mein erster Kampf
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
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