Als erstes gingen wir in Koheriths Zelle - und stellten fest, daß er sich aufgehängt hatte. Ich sah ihn fassungslos an und brach dann in Tränen aus. Während der eine der Männer mich auf seine rauhe und etwas bärbeißige Art zu trösten versuchte, schnitt der andere die Leiche los. Das mit dem Trösten funktionierte nicht, da ich schlicht zu erschöpft war, um mich wieder fangen zu können.
Danach sahen sich die beiden an und einer meinte:
"Was machen wir jetzt?"
"Weiß nicht." antwortete der andere.
"Was ist los - normalerweise gibt es doch ganz klare Richtlinien, was
bei einem Selbstmord zu tun ist."
"Schon aber... weißt du, der Gefängnisleiter meinte, wenn
auch nur einer von denen stirbt, dann fliegen wir aus dem Dienst."
"Dann nehmt ihr mich mit, wenn ihr Bericht erstattet - ich werde ihm
sagen, daß ich ganz ehrlich der Ansicht bin, daß es nicht
eure Schuld ist. Es dürfte dann auch ihm klar sein, daß eine
solche Strafe in diesem Fall ungerecht wäre." sagte ich.
"Das würdest du für uns tun?" fragte der eine von ihnen
überrascht.
"Ja. Und in Zukunft müssen wir sehen, daß wir besser auf die
Leute aufpassen, die wir zur Besinnung kriegen - auch wenn ich nicht
weiß, ob das viel nützt. Einen Menschen, der sterben will, am
Selbstmord zu hindern, ist im Endeffekt unmöglich. Und jeder von uns
Reitern hat dazu Grund genug." antwortete ich.
"Und du meinst wirklich, er hätte sowieso Selbstmord begangen?"
fragte mich der Gefängnisleiter als ich erzählt hatte, was
vorgefallen war.
"Vielleicht hätte es etwas gebracht, ihm den jungen Drachen zu
zeigen. Aber auf den Gedanken war ich einfach nicht gekommen. Wie willst du
jemanden am Selbstmord hindern, der sterben will?" antwortete ich.
"Warum sollte es etwas ändern, wenn man ihm einen jungen Drachen
zeigt?" fragte der Gefängnisleiter verwirrt.
Wie sollte ich das erklären, ohne gleich sämtliche Vorurteile zu
bestätigen? Ich begann von meiner Kindheit zu erzählen, wie ich
als sechzehnjähriger mehrfach kurz hintereinander ins Krankenhaus kam,
weil mein Vater mich krankenhausreif geprügelt hatte. Dann war ich
gefragt worden, ob ich einen Drachen reiten wolle. Ich sagte ja, denn ich
hatte gehört, daß Drachenreiter niemals geschlagen werden. Ich
erzählte von der Gegenüberstellung, von der Begeisterung des
jungen Drachen, gerade mich gefunden zu haben.
"Und irgendwie hat es nicht nur mein Bild von mir selbst verändert
und mich gelehrt, mich selbst mehr zu lieben. Es hat mich auch gelehrt
andere Menschen so zu sehen, wie ein Drache seinen Menschen sieht. Mit
viel, viel Liebe, unabhängig davon, was für ein Mensch es auch
sein mag. Der Anblick eines jungen Drachen hätte Koherith vielleicht
helfen können, diese Liebe in sich wiederzufinden." schloß
ich meinen Bericht.
Der Gefängnisleiter hatte sich den Bericht angehört und konnte es nicht fassen. Konnte es wirklich sein, daß dieser ruhige, zufrieden und ausgeglichen wirkende Mensch in seiner Kindheit so mißhandelt worden war? Und das über Jahre hinweg?
Ganz davon abgesehen - warum machte er sich jetzt keine Sorgen um die
Zukunft? Er mußte doch wissen, daß Drachenreiter nichts Gutes zu
erwarten hatten! Und wenn er zu sich selbst ehrlich war, müßte
ihm auch klar sein, daß ein kleiner Gefängnisleiter daran
gewiß nichts ändern konnte. Wenn er den Drachen wirklich so
geliebt hatte, warum haßte er ihn nicht? Eigentlich müßte
er all die menschlichen Eroberer hassen, die ihm sein ganzes Leben
kaputtgemacht hatten. Doch bis jetzt war von ihm nur ruhige Freundlichkeit
zu spüren. Und Humor. Wie konnte er unter diesen Umständen noch
lachen?
"Du müßtest mich doch hassen." sagte der
Gefängnisleiter.
"Du persönlich hast mir nichts getan. Im Gegenteil, du hilfst uns
so viel, wie es dir möglich ist. Warum sollte ich dich hassen?"
fragte der Drachenreiter zurück.
"Unser Heer hat deinen Drachen ermordet."
"Nicht nur meinen Drachen. Auch die meisten meiner Freunde. Sowohl
Menschen als auch Drachen. Und auch mich wird höchstwahrscheinlich
eine Art Todesurteil erwarten. Aber wenn ich jetzt hassen würde,
würde das nichts davon ungeschehen machen. Es würde nur ein wenig
mehr Haß und Grausamkeit in die Welt bringen. Wenn ich aber liebe,
mag es sein, daß eine weitere solche Eroberung nicht ganz so grausam
ausgehen wird." antwortete der Drachenreiter ruhig.
Und diesmal war seine tiefe Traurigkeit auch auf dem Gesicht
abzulesen.
Danach schickte der Gefängnisleiter uns wieder aus seinem Büro, wir sollten auch dem Rest der Drachenreiter etwas zu Trinken einflößen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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