Ich ging in die Kantine und holte mir mein Frühstück. Im Nu war ich von Kindern umringt, die mich als Babysitter verspotteten. Ich starrte sie einfach nur fassungslos an. Dann nahm ich mein Essen, drehte ihnen den Rücken zu und ging hoch zu Jesus Arid und dem Johannes.
*Was machst du denn schon wieder hier? Wir wollten doch allein sein.*
Das hatte ich wahrhaftig ganz vergessen. Ich erzählte den beiden, was geschehen war.
*Es wird immer schlimmer. Zu meiner Zeit hätte das nicht passieren können.* kommentierte Johannes.
*Was heißt hier zu deiner Zeit? Du lebst doch noch.* widersprach Arid.
*Na komm. Was kann ich schon machen, wenn etwas falsch läuft? Ich
kann mich hinstellen und böse gucken. Dann fangen die jungen Leute an
mich zu verspotten und nach einer Weile kommen drei Jungen und sagen:
Warum hast du dich schon wieder hier versteckt? Weißt du, wie lange
wir dich gesucht haben?
und niemand hat mich verstanden. Du kannst es vergessen. Das einzig
Sinnvolle, was ich heute hier mache, ist euch Schüler zu unterrichten, die
die Gedankensprache beherrschen.
Und du kannst genausowenig tun, Arid. Wenn du hingehst und ihnen Vorhaltungen machst, sagen sie:
"Was, der Feigling will uns etwas sagen?" Und sie lachen dich aus.
Hier ist das Unterste zuoberst gekehrt. Die wahrhaft Großen werden
verspottet und erniedrigt und die Engel suchen sich Idioten als
Würdenträger unseres Volkes aus.* beharrte Johannes *Simon, du solltest
Geistiger Kampf mitmachen. Da findest du, was du brauchst.
Und wenn du Kräuterkunde lernen willst, mußt du jetzt gehen.*
"Du, wo muß ich hingehen, wenn ich geistiger Kampf lernen will?" wechselte ich schließlich das Thema.
"Warum willst du jetzt schon Geistiger Kampf lernen? Das braucht so ein kleines Kind wie du doch noch nicht."
"Der Johannes hat gesagt, daß ich da genau das finde, was ich brauche. Und wenn er das sagt, dann stimmt das."
erklärte ich dem Lehrer.
"Der Johannes kann nicht reden!" widersprach er.
"Doch er kann reden. In meinem Kopf." erklärte ich.
"Willst du behaupten, daß du die
Gedankensprache beherrscht?" fragte er
erstaunt und verärgert "Komm mit und beweis mir das!".
Er führte mich in Johannes Zimmer, das jedoch leer war. An der Tür
hing ein von Arid geschriebener Zettel, auf dem stand, daß er beim
Lehrer für Geistigen Kampf sei.
"Wenigstens Arid nimmt sich regelmäßig Zeit für den
Johannes. Selbst wenn er ein Feigling ist, ist er doch eine liebe
Seele." meinte der Kräuterkundelehrer.
Wir gingen dorthin und Johannes war auch dort schon wieder weg. Der Lehrer
vermutete daß der Johannes wieder in sein Zimmer gegangen sei. Wir
gingen zurück und fanden ihn tatsächlich dort.
"Johannes, dieser Knirps sagt, er könnte die Gedankensprache. Sag ihm,
was ich am Sommerfest mit dir gemacht habe, als du zehn warst."
*Die offizielle Version war, daß du mir bei einem Unfall den Arm
gebrochen hast. Die Wahrheit darf ich dem kleinen Simon nicht sagen,
denn ich habe dir versprochen, darüber zu schweigen.* antwortete der
Johannes und ich gab seine Worte laut wieder.
"Ich entbinde dich von deinem Versprechen. Sag es trotzdem."
*Bist du dir sicher? Dann versprich mir, daß du es Simon nicht
übel nimmst, wenn er die Wahrheit weiß.*
"Ich verspreche es dir. Und nun sag es endlich."
*Der Armbruch war tatsächlich ein Unfall. Doch vorher hatte Jesus Iran
mich drei Stunden mittels der Essener-Folter mit Akupunkturnadeln
gefoltert.* erklärte Johannes und ich gab seine Worte laut wieder.
Jesus Iran, der Lehrer in Kräuterkunde wurde leichenblaß.
*Sag ihm, daß du darüber schweigen wirst. Er war lange mein
Vertrauter und hat mir einmal das Leben gerettet, obwohl das für ihn
sehr gefährlich war, Simon. Jeder Mensch macht einmal Fehler.* befahl
der Johannes.
"Jesus Iran. Der Johannes hat über dieses Erlebnis bisher aus guten
Gründen geschwiegen. Da ich ihm vertraue,
werde auch ich darüber schweigen." sagte ich laut.
Der Lehrer sah mich fassungslos an:
"Du kannst es tatsächlich."
"Ja."
"Warum kannst du das und nicht ich, wo Johannes doch so lange schon mein
Freund ist!" fragte er und fühlte sich schrecklich ungerecht behandelt.
Ich umarmte ihn, um ihn zu trösten.
"Ich kann doch für dich übersetzen. sagte ich und fragte den
Johannes in der Gedankensprache: *Warum weiß Jesus Iran nicht,
daß Arid mit dir reden kann?*
*Wenn die Engel das erfahren, bringen sie Arid um.*
antwortete der Johannes.
Ich glaubte das unbesehen. Genauso kannte ich die Engel..
Ich ging also zum Lehrer für geistigen Kampf und nahm an den letzten Minuten des Unterrichts teil. Auch der Lehrer dort war überrascht, daß ich als Vierjähriger an einem Unterricht teilnehmen wollte, den nur diejenigen mitmachten, die beschlossen hatten, die Einweihung machen zu wollen. Die meisten von ihnen waren mindestens zwanzig Jahre alt. Noch überraschter war er jedoch über meine Begründung, daß der Johannes mir das geraten hatte. Glücklicherweise war der Lehrer der Kräuterkunde mitgekommen und konnte ihm das bestätigen. Darauf, das noch einmal zu beweisen, hatte ich wirklich keine Lust.
"Geistiger Kampf wird gelehrt, damit ihr lernt, mit Foltern und Gewalt umzugehen, ohne daran zu verzweifeln. Deshalb
besteht der Unterricht auch tatsächlich aus Foltern. Denn den Umgang mit Foltern kann man nur
lernen, indem man sich ihnen aussetzt. Im Unterschied zu Foltern, die
gemacht werden, um den Willen eines Menschen zu brechen, hast du beim
lernen des Geistigen Kampfes aber die Möglichkeit, die jederzeit
abzubrechen, so daß du dem nie länger ausgesetzt bist, als du einen
solche Folter aushalten kannst. In Wirklichkeit ist das nur Spiel. Echte
Foltern sind etwas Anderes, weil du nicht jederzeit ihr Ende befehlen
kannst.
Selbst wenn ich dir während einer Übung etwas Anderes einzureden
versuche, wirst du nach einer Übung hier nie einen Körperschaden
davontragen.
Möchtest du einmal ausprobieren, wie lange du eine Folter aushalten
kannst, bevor ich dir die Methoden des Geistigen Kampfes lehre?"
"Ja." sagte ich.
"Gut. Dann leg dich auf die Folterbank und bleibe so lange dort liegen,
wie du es aushalten kannst."
Ich legte mich hin. Der Lehrer nahm eine kleine Nadel, wie eine Stecknadel und stach sie an einer bestimmten Stelle in den Körper. Da begann meine ganze Haut zu brennen und zu kribbeln, als wäre sie verbrannt worden. Ich hatte Übung im Stillhalten bei solchen Dingen. Ich blieb unbeweglich liegen. Er setzte eine zweite Nadel und die Schmerzen verdoppelten sich. Ich rührte mich nicht. Von da ab weiß ich nicht mehr, wie genau diese Folter ablief. Ich lenkte mich ab, indem ich den Putz an der Wand betrachtete und mir die Einzelheiten einprägte, als hinge mein Leben davon ab. Das Ganze schien mir ewig zu dauern. Doch ich blieb innerlich ruhig und entspannt und wartete einfach nur ab.
Schließlich hörte es auf. Ich löste mich von meiner innigen Betrachtung der Wand, sah den Lehrer an und
fragte:
"Warum hast du aufgehört?"
"Was hast du gemacht, daß du das so lange ausgehalten hast?"
Ich beschrieb meine Vorgehensweise.
"Wo hast du das gelernt?"
"Bei... setzte ich an, die Geschichte mit den Engeln zu erzählen."
Doch die Engel unterbrachen mich, indem sie mich folterten. Und da die Folter aufs Nervensystem geht, konnte
ich wirklich nicht sprechen. Ich war ein hilflos zitterndes Bündel. Die anderen bekamen Angst um mich und liefen wirr
durcheinander.
Irgendjemand rief Jesus Arid, weil bekannt war, daß er solche Probleme lösen konnte. Die
Geschichte, die sie ihm erzählten, war aber so konfus, daß er nicht daraus schlau werden konnte.
*Simon?* wandte Arid sich an meine Gedanken.
*Ja.* antwortete ich.
*Was ist?*
*Die Engel haben mich gefoltert.*
*Ach so. Warum?*
*Ich habe versucht dem Lehrmeister zu erklären, daß ich den Umgang mit
Foltern durch die Foltern der Engel gelernt habe.*
*Ach so. Klar. Das versuchst du kein zweites mal. Wenn du jeden, der dir
begegnet, davon zu überzeugen versuchst, daß die Engel uns betrügen,
wird dir kleinem Kind sowieso keiner glauben. Aber die Engel wissen, daß
du die Wahrheit sagst. Und sie foltern dich entweder so lange, bis du
dieses Vorhaben aufgibst oder sie bringen dich um, bevor du erwachsen
bist. Und dazu bist du für unsere Pläne zu wichtig. Wir brauchen dich
noch, damit du helfen kannst, unser Volk vor den Plänen der Engel zu
retten.
Lerne schweigen.*
Bei diesen Worten klang Arids Geiststimme streng und strahlte eine Macht und Würde aus, die ich von ihm nicht
kannte.
Dann sagte er den anderen:
"Das werden wir gleich haben."
Er nahm mich auf den Arm und brachte mich zum Johannes. Der Johannes mahnte mich ebenfalls, mit niemandem über die
Engel zu reden, es sei denn in der Gedankensprache. Dann warteten wir einfach ab, bis die Wirkung der Folter von alleine
abklang.
Als ich am nächsten Tag zum Frühstück in die Kantine ging, ärgerte mich keiner mehr. Ich hörte, wie sie flüsterten, daß ich mit dem Johannes sprechen könne und deshalb würde er mir alle seine Geheimnisse verraten. Abends beim Zubettgehen erzählte ich dem Johannes davon.
*Sie haben Recht. Genau das werde ich tun.* erklärte er *Aber nicht, weil
ich dich mag, sondern einfach, weil dieses Wissen nicht untergehen darf
und weil du zu den Wenigen zählst, denen ich es vermitteln kann. Und es
wird hart. Wir haben zu wenig Zeit, also werde ich bis an deine Grenzen
gehen, um dich zu lehren. Manchmal wirst du mich dafür hassen.*
*Nein. Ich hasse niemanden.* widersprach ich entschieden.
*Auch nicht die Engel?* fragte er.
*Auch nicht die Engel.* antwortete ich.
*Das ist gut. Bleib so. Du läßt dich auf dem Heilerweg ausbilden. Nicht die Römer sind unsere
wahren Feinde sondern die Engel. Und gegen die sind unsere hochwertigen
Schwerter bedeutungslos. Sie haben Waffen, mit denen sie uns aus über
hundert Metern Entfernung erschießen könnten, wenn sie wollten. Und du
redest mit niemanden über die Engel. Nur mit mir oder Arid und nur in
der Gedankensprache. Verstanden?* sagte er.
Ich nickte ernst. Seine Gedanken erschienen mir sehr vernünftig.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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