Die zweite Drachenreiterin kam zwar auf Befehl - brachte aber ohne Erlaubnis ihren Drachen mit.
Der Professor befahl ihr angeekelt, das Vieh wieder wegzubringen.
"Ein Drache ist kein Tier." widersprach sie empört.
"Wenn ich sage, daß ein Drache ein Vieh ist, dann ist er ein
Vieh, verstanden?"
Sie sah ihn mit vor Wut blitzenden Augen an und schwieg.
"Verstanden?"
"Ja." antwortete sie widerstrebend.
Dann öffnete sie die Tür und ließ den Drachen einfach
fliegen.
"Du darfst den Drachen nie ohne Aufsicht lassen." befahl der
Professor.
"Das ist er auch nicht. Ich bin mit seinen Gedanken verbunden und sehe
durch seine Augen, was er sieht." antwortete das Mädchen.
"Weißt du übrigends, daß dein Freund ein
Friedenshüter ist?" fragte der Professor prüfend.
"Was, wie? Nein, das kann nicht sein! Er ist doch kein
Verräter!" sie war offensichtlich empört und entsetzt von
der Vorstellung.
In der kurzen Unterredung mit dem Professor, hatte ich ihn schnell eindeutig klassifiziert. Er war ein Arschloch. Jemand, dem man auf keinen Fall auch nur die geringste Schwäche zeigen darf, weil er einen sonst so lange damit quält, bis man am Ende seiner Kräfte ist. Ansonsten war jederzeit mit boshaften Experimenten zu rechnen. Merkwürdig war, daß ich am Ende so etwas wie ein Einverständnis zwischen uns beiden gespürt hatte. Irgendetwas hatte ich erreicht - fragt sich halt nur was. Mit Sicherheit hatte ich jedenfalls seine Achtung gewonnen, auch wenn mir ein Rätsel war, wozu die Achtung eines solchen Arschloches gut sein mochte.
Nur wenige Minuten nach dem Ende des Gesprächs kam die Daeraith in
meine kleine Kammer und sagte:
"Dieser blöde Professor hat behauptet, du wärest ein
Friedenshüter."
Ich nickte wortlos.
"Aber du bist doch kein Friedenhüter, nicht wahr?"
In dem Augenblick begann sich alles vor meinem inneren Auge zu drehen.
Unbekannte Erinnerungen stiegen an die Oberfläche meines
Bewußtseins und erzählten mir, daß ich sehr wohl ein
Friedenhüter war. Ich schlug mir die Hände vors Gesicht, um mich
vor dem Übermaß an Informationen zu schützen, die
plötzlich auf mich einstürmten. Was natürlich nicht
funktionierte, weil es ja in meinem Kopf ablief. Mir war schwindelig.
"Was ist plötzlich mit dir los, Khaerith?"
Heftig schüttelte Daeraith mich. Ich schüttelte meinen Kopf in
der Hoffnung, daß er dadurch klarer würde, und irgendwie
funktionierte es auch.
"Was ist los? Bist du ein Friedenshüter?"
"Ja. Ich bin ein Friedenshüter, aber ich wußte bis eben
nichts davon." antwortete ich.
Ihre Miene war sehenswert. Mit der Antwort hatte sie offensichtlich nicht gerechnet. Was das angeht: Ich ja auch nicht. Ich selbst hatte Friedenhüter ein ganzes Leben lang für Verräter an der Menschheit gehalten - nur um plötzlich zu entdecken, daß ich selber einer war. Und Erinnerungen in mir erwachen zu sehen, die mir eindeutig verrieten, daß Friedenshüter niemanden verraten hatten. Daß sie aber wieder und wieder verraten worden waren, verraten, verkauft, mißhandelt, belogen, ermordet, zu Tode gefoltert. Und es gab nur neun Friedenshüter - wir waren mal über tausend gewesen, aber jetzt waren wir nur noch neun. Die meisten hatten einfach die ständigen Foltern nicht verkraftet und waren deshalb abgesprungen, um ein einfaches, unbedeutendes Leben zu führen. Ich aber war meinem Gewissen treu geblieben und hatte weiter für den Frieden gearbeitet, obwohl ich längst keine Hoffnung mehr sah. Nun - langsam zeigten sich doch Erfolge. Ich war der erste Drachenreiter gewesen in einem früheren Leben. Und seither wurde den Menschen im Drachenreich Achtung und Liebe entgegengebracht. Aber ohne die zweite Hälfte, den Erfolg auch im Menschenreich konnte daraus noch nichts Positives entstehen. Deshalb hatte ich mir dieses Leben geplant, in dem ich Drachenreiter wurde und danach in menschliche Gefangenschaft geriet.
"Khaerith ins Büro" rief der Professor über Lautsprecher
aus und ich mußte gehen, bevor ich mich ihrer Freundschaft
versichern konnte.
"Du bist ein Friedenshüter nicht wahr." sagte der Professor,
kaum daß ich den Raum betreten hatte.
"Wie kommst du darauf?" fragte ich zurück.
Ich war froh, daß Daeraith mich zuerst gefragt hatte, so daß
ich inzwischen nicht mehr so verwirrt war.
"Bist du ein Friedenshüter?"
Ich schwieg.
"Bist du ein Friedenshüter?"
Das war die dritte Frage und nach unseren eigenen Regeln mußte ich
sie beantworten.
"Ja. Ich bin ein Friedenshüter."
Selbstverständlich hätte ich auch lügen können, aber
damit hätte ich alles verraten, an das ich glaubte.
Ich stand still da und wartete darauf, daß er mich an die Regierung melden würde. Daß ich dann zum Hauptzentrum des Geheimdienstes des menschlichen Reiches geschickt würde und dort schließlich gefoltert würde, bis ich tot bin. Sie nannten so etwas Verhör - aber im Grunde war diese Bezeichnung lächerlich, weil wir schon vor Jahrhunderten beschlossen hatten, jeden Geheimdienst möglichst vollständig über unsere Erinnerungen, Ziele und Strategien aufzuklären, weil bei Licht betrachtet nichts darin enthalten war, was irgendjemandem schaden würde. Nur wo gerade unsere Leute lebten, verrieten wir nicht, bevor sie tot waren und auch die Staatsgeheimnisse des jeweiligen Kriegsgeners verrietern wir nicht. Doch das hatte nicht gereicht, um sie vom Foltern abzubringen. Dabei hätten sie ohne Foltern mehr erfahren, weil wir unsere Gedanken dann besser hätten ordnen und verständlicher formulieren können. Es hatte nur den Effekt gehabt, daß manche von unseren Plänen von der Regierung übernommen wurden. Das immerhin war auch ein Erfolg.
"Na wie fühlt man sich, wenn man gerade entlarvt wurde?"
fragte er lauernd.
"Desorientiert." antwortete ich.
"Warum das?"
"Weil ich es bis vor ein paar Minuten selbst noch nicht
wußte." antwortete ich.
"Dann stimmt das also. Ihr wißt nichts davon und es fällt
euch erst dann ein, wenn ihr die Frage gestellt bekommt. Warum gebt ihr
eigentlich immer eine ehrliche Antwort?"
"Es gibt nur neun Friedenshüter. Aber es gibt hunderttausende an
anständigen Menschen auf der Welt. Würden wir nicht ehrlich
antworten, würden Menschen allein wegen ihres Anstandes für
Friedenshüter gehalten und so lange gefoltert, bis sie es zugeben,
obwohl sie in Wirklichkeit nicht zu uns gehören. Wir wollen weder,
daß andere für unsere Taten bestraft werden, noch daß
wir für die Taten anderer verantwortlich gemacht werden."
antwortete ich.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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