Ich lernte, als hinge mein Leben davon ab, weil der Johannes das von mir forderte. Die meisten Lehrer Karmels waren zu naiv, um die Gefahren, die mir und dem gesamten Orden drohten, auch nur zu erkennen, geschweige denn, richtig einzuschätzen. Wer so mit seinen Verbündeten umgeht, wie die Engel, den hat man lieber zum Feind, als zum Verbündeten. Die Wahl hatten wir leider nicht. Wir mußten sie unsere Verbündeten nennen, wenn sie uns nicht sofort umbringen sollten. Die Lehrer bewunderten meine Leistungen, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß derart übertriebener Eifer eigentlich ein Warnzeichen ist. Er zeigte, daß ich mich hochgradig bedroht fühlte und es war tatsächlich mein Versuch, mir durch dieses Lernen irgendeine Chance im Leben erkämpfen zu wollen.
Ein kleines Mädchen saß still da, das Gesicht mit einem
träumerischen Ausdruck einem Baum zugewandt. Ich trat näher und
spürte wieviel Ruhe von diesem kleinem Kind ausging. Ich nahm
Verbindung mit seinem Geist auf und dachte ihm zu:
*Hallo?*
Es fuhr zu mir herum und starrte mich plötzlich hellwach und aufmerksam
an. Ich und wiederholte meinen Gruß und lächelte:
*Bist du ein Geist?* fragte sie mich.
*Nein. Ich suche nur jemanden, der fähig ist, von einem stummen Mann zu
lernen. Deshalb spreche ich dich in Gedankensprache an. Willst du von
dem Johannes die Geheimnisse der Essener lernen?* fragte ich sie.
*Ja.* antwortete sie.
*Gut. Dann werde ich dich kaufen, damit wir nicht ein Haufen Römer auf
den Fersen haben, wenn wir nach Karmel zurückkehren.
Magst du den Sonnenuntergang?*
*Ja. Es ist eine so schöne, friedliche Zeit.*
*Dann hast du mit dem Johannes etwas gemeinsam. Ich schaue ihn jeden
Abend zusammen mit dem Johannes an.* sagte ich.
Ich kaufte also ein kleines Mädchen und verstieß damit gegen alle Gepflogenheiten Karmels. Es ist nicht so, daß wir etwas gegen Frauen hätten. Nur gibt es halt Schulen für Frauen und es gibt Schulen für Männer bei den Essenern. Maria war in einer Schule für Frauen ausgebildet worden. In Karmel wurden Jungen ausgebildet. Außerdem war sie zu jung. Nach Ansicht der Essener ist ein Kind von zwei Jahren so jung, daß es durch eine Trennung von den Eltern so erheblichen Schaden in seiner Seele nimmt, daß es nicht mehr gesund heranwachsen kann. Ich aber spürte ihre ruhige ausgeglichene Aura und wußte, daß sie eine seelisch gesunde Erwachsene werden würde.
Nachdem die geschäftlichen Dinge abgewickelt waren, nahm ich das
Mädchen an die Hand und suchte Arid. Er hatte einen
fünfjährigen Jungen gekauft. Ich versuchte mit seinem Geist
Kontakt aufzunehmen und schaffte es nicht, dann nahm ich mit Arids Geist
Kontakt auf und fragte ihn, warum er diesen Jungen genommen hätte.
*Er kann doch die Gedankensprache nicht.*
*Es ist schwierig, den Kontakt zu ihm herzustellen. Aber mir ist es einmal
gelungen und dann wird Johannes das auch schaffen. Er wird es lernen,
bevor ein Monat um ist.* erklärte Arid.
*Warum hast du ein Mädchen gekauft?* fragte Arid.
*Wie heißt du?* fragte ich das Mädchen.
*Maria.* antwortete sie.
*Frag Arid etwas in der Gedankensprache. Egal was. Es darf auch ruhig
unverschämt oder unhöflich sein.*
*Du, warum hast du keinen Bart?* fragte sie Arid.
Ich mußte lachen, weil das genau die Frage war, die ich Arid auch
zuerst gestellt hatte. Er erzählte ihr dieselbe Geschichte, wie mir.
Sie lösten den Kontakt zu ihm und dachte mir zu:
*Das stimmt nicht. Es waren nicht die Römer.*
*Sag es ihm.* ermutigte ich sie.
Sie wiederholte Arid dieselben Worte.
*Stimmt. Aber das ist die Geschichte, die du laut sagen darfst. Wenn du
die Wahrheit wissen willst, mußt du zuerst schweigen lernen.*
antwortete Arid.
Wieder löste sie den Kontakt zu Arids Geist und sagte mir:
*Es waren Menschen, die aus fliegenden Schiffen kamen.*
Ich war erstaunt. Das ergab Sinn. Das war der Grund, warum mir Arid die
Geschichte mit den Engeln sofort geglaubt hatte.
*Mir hat er dieselbe Geschichte erzählt wie dir. Aber ich glaube, du hast
recht. Diese Menschen werden bei uns Engel genannt. Du wirst merken,
daß die meisten Essener Engel für gut halten. Das stimmt nicht. Ich habe
da selber einiges Schlechte erlebt. Aber du mußt wirklich schweigen über
das, was du weißt. Die Engel sind sehr böse. Sie würden dich töten. Du
darfst Johannes nur in der Gedankensprache davon erzählen.*
Mir kam ein Gedanke.
*Die Engel haben den Johannes so schrecklich gefoltert, nicht wahr?* dachte ich Arid zu.
Er warf mir einen hellwachen Blick zu und verweigerte eine Antwort. Da wußte ich, daß ich recht hatte.
Da die anderen Kinder, die wir mitnahmen, mindestens viereinhalb Jahre alt waren, trug ich die kleine Maria am Ende ein langes Stück, weil sie so müde war.
Sie zog ihr Kleid aus und sah dabei - starr - aus.
*Was ist los?* dachte ich ihr zu und schloss alle anderen aus unserer Verbindung aus.
*Ich hätte nicht gedacht, daß der Johannes so etwas macht.*
Mein Geist war ein einziges Fragezeichen. Sie schickte mir ein Bild von einer Vergewaltigung, die ein anderer an ihr
begangen hatte. Ich kannte nicht einmal das Wort für Vergewaltigung oder Kindesmißbrauch.
*So etwas tut der Johannes nicht.* sagte ich.
*Aber ich soll mich doch ausziehen!*
Dann sah ich ihren Rücken, starrte die vielen Striemen darauf entsetzt an und wußte, was er wirklich
vorhatte.
*Maria, er will deinen Rücken heilen. Wenn du ihn läßt, ist von diesen
Striemen in fünf Minuten nichts mehr übrig.* erklärte ich.
*Meinst du?*
*Ich bin mir sicher. Leg dich hin und probier es aus.* dachte ich ihr entschieden zu.
Sie schaute mich mit einem Lächeln an, das nur aus Unsicherheit bestand und tat was ich sagte. Es dauerte
länger als fünf Minuten, weil der Johannes zuerst einige innere Verletzungen heilte, die durch den
Kindesmißbrauch hervorgerufen worden waren. Als er fertig war, schlief sie ein und ich trug sie in ihr neues
Zimmer. Ich war mir sicher, daß der Johannes sie mochte.
Dann setzte ich mich wieder zu Johannes und behauptete grinsend:
*Nicht wahr, das ist die schrecklichste Schülerin, die du dir vorstellen kannst!*
*Nein. Du hättest niemanden finden können, der besser geeignet ist.* antwortete Johannes.
Er richtete seinen Blick auf mich und betrachtete mich so tiefnachdenklich, daß ich mich wirklich fragte, was an
mir so interessant sein könnte, daß der Johannes eine geschlagene Stunde überlegen mußte und immer
noch zu keinem Ergebnis kam. Ich fragte ihn, doch er antwortete einfach nicht. Schließlich bat er mich, den Raum zu
verlassen, da er noch Einiges mit Arid zu besprechen hätte. Ich gehorchte.
Am nächsten Tag schlich ich noch vor dem Frühstück zu dem Zimmer der kleinen Maria. Ich war bestimmt sehr
leise, doch sie bemerkte mich trotzdem, kam heraus und fragte mich, wann denn jemand kommen würde und ihr sagen
würde, was sie als Nächstes tun müßte.
"Nie." antwortete ich ihr "Das mußt du schon selbst entscheiden. Was willst du denn jetzt tun?".
"Ich habe Hunger."
"Ich gehe gerade frühstücken. Wenn du willst, kannst du mitkommen."
Wir gingen also zusammen in die Kantine.
"Na? Was hat der Johannes zu deinem Kauf gesagt?" fragte jemand hämisch.
"Er war zufrieden." antwortete ich.
"Oder wollte er dir bloß nichts Schlechtes sagen?" fragte er hämisch weiter.
"Er war zufrieden." wiederholte ich meine Worte.
"Das kannst du dir nur leisten, weil er dir nicht widersprechen kann!" meinte jemand.
"Du kennst den Johannes nicht." stellte ich fest.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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