erste Version: 7/2006
letzte Bearbeitung: 6-7/2016
letzte Bearbeitung: 1/2022

VA265.

ADHS: Ein wenig ausgeprägtes Bestrafungs- und Motivationssystem im Gehirn?

Inhalt

Übergeordneter Artikel:
VA238. Kersti: Ist ADHS eine Krankheit?
Dieser Text:
VA265.1 Kersti: Sind ADHSler nicht ohne äußere Motivation arbeitsbereit?
VA265.1.1 Kersti: Sehr gute Arbeitsergebnisse gibt es nur bei starker intrinsischer Motivation
VA265.1.1 Kersti: Hyperfocussieren: Mein Heilpraktikerschein
VA265.1.2 Kersti: Wandernde Gedanken
VA265.1.2 Kersti: Wandernde Gedanken...
VA265.1.3 Kersti: Schlechte Arbeitsergebnisse wurden oft unnötigerweise durch Lehrer verursacht
VA265.1.3 Kersti: Malen um die Aufmerksamkeit im Klassenzimmer zu halten
VA265.1.3 Kersti: Zahlenkaiser: Die Stimme des Lehrers hat mir buchstäblich wehgetan
VA265.1.4 Kersti: Hyperfocussieren als Ursache der subjektiv empfundenen zu großen Lautstärke
VA265.1.4 Kersti: Die Stimme des Lehrers erschien mir subjektiv wie Krach über der Schmerzgrenze, war aber objektiv wohl fast normale Sprechlautstärke
VA265.1.4 Kersti: Wenn ich lese: "Erde an Kersti ..."
VA265.1.5 Kersti: Wann arbeitet ein ADHSler gut, wann schlecht?
VA265.2 Kersti: Sind ADHSler nicht durch Lob und Strafe konditionierbar?
VA265.2.1 Kersti: ADHS: Erlernte Hilflosigkeit wegen Fehlanforderungen
VA265.3 Kersti: Haben ADHSler Wutanfälle weil sie unbeherrscht sind?
VA265.3.1 Kersti: Roß und Reiter Problem bei ADHS: Nicht die Selbstbeherrschung ist schlechter, sondern die Gefühle stärker
VA265.3.2 Kersti: Wutanfälle können helfen, Streß auf ein handhabbares Maß abzubauen
VA265.3.2 Kersti: Wozu Wutanfälle nötig sind
VA265.3.3 Kersti: Wutanfälle als letzte Stufe der Konflikteskalation bei Ignoranz gegenüber den Besonderheiten des ADHSlers
VA265.3.3 Kersti: Wenn mich jemand mitten in einem Lied unterbricht, zerreißt mir das das Herz und sie behauptete ernsthaft, solche Empfindungen gäbe es nicht
VA265.3.4 Kersti: Mit welchem Recht erlauben sich Bezugspersonen mehr Ärger über die für das Kind mit ADHS unvermeidbaren Fehler als sie diesem zugestehen?
VA265. Kersti: Quellen

 
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1. Sind ADHSler nicht ohne äußere Motivation arbeitsbereit?

Buch: B131.6 Hallowell, Edward & Ratey, John / Zwanghaft zerstreut oder die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein, S.417.
In ähnlicher Weise bestimmt Russell Barkley das Grundproblem bei der ADD als ein Defizit im Motivationssystem, das es dem Betroffenen unmöglich macht, ohne ständiges Feedback, ständige Belohnung bei einer Aufgabe zu verweilen.
Die Behauptung daß Menschen mit ADHS nicht ohne äußere Motivation arbeitsbereit seien, ist schlicht falsch. Unter bestimmten Umständen bleiben sie sogar weitaus hartnäckiger bei der Sache, als Menschen ohne ADHS das könnten.

 
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1.1 Sehr gute Arbeitsergebnisse gibt es nur bei starker intrinsischer Motivation

Die Behauptung, daß ADHSler nicht ohne äußere Motivation arbeitsbereit seien, erscheint mir sehr erstaunlich, denn es ist bekannt, daß ADHSler ihre wirklich guten Arbeitsergebnisse immer nur dann abliefern, wenn sie eine sehr starke intrinsische - also von innen kommende - Motivation haben. Das führt oft zu dem ungerechten Vorwurf
VA254. Kersti: Du kannst ja, wenn Du willst!
Der normale Schüler kann aber, wenn er sich hinsetzt und bemüht, der ADHSler kann bestimmte Dinge nur, wenn her hochmotiviert ist! Und hochmotiviert sein klappt nicht auf Befehl.

Beispielgeschichte, Kersti:

Hyperfocussieren: Mein Heilpraktikerschein

Nachdem ich zwei Jahre in meinem Beruf als Bauzeichnerin gearbeitet hatte, beschloß ich, daß ich Heilpraktikerin werden will, informierte mich, was dazu nötig ist, schrieb mich in ein einschlägiges Fernstudium ein und ließ mir das erste Material zuschicken. Es handelte sich um einige Bücher und einen Ordner mit Lehrmaterial.

Nachdem ich überlegt hatte, wie ich am Besten arbeiten kann, entschied ich, daß ich das Material zuerst einmal so schnell wie möglich einfach durchlesen wollte. Damit mein Unbewußtes möglichst viel Zeit hat, den Stoff zu integrieren, bevor ich die Fragen beantworte. Die Fragen wollte ich beantworten, sobald ich das Gefühl hatte, daß es jetzt geht.

Nachdem ich den ersten Ordner mit Lehrstoff innerhalb weniger Tage gelesen hatte, rief ich die Heilpraktikerschule an, daß ich die nächsten beiden Ordner sofort haben will. Sie wurden mir zugeschickt. Das lernen begeisterte mich: Wenn ich morgens aufwachte, dachte ich sofort an den Ordner, zog ihn zu mir heran und begann zu lesen. Das tat ich, bis mein Hunger irgendwann so stark wurde, daß der Hunger meine Begeisterung fürs Lernen überstimmte, dann kochte ich mir etwas. Das Essen verdrückte ich beim Lesen, weil es mir so schwer fiel, den Ordner mit dem Lehrstoff aus der Hand zu legen. Und ich las weiter bis ich ins Bett wollte, weil ich zu müde zum weiterarbeiten war.

Nach etwa zwei Wochen bekam ich eine Zahnwurzelentzündung. Daraufhin dachte ich mir, daß ich mir da wohl zu viel zugemutet hatte, und beschloß, daß es ab sofort strengstens verboten ist, Samstag oder Sonntag einen Handschlag fürs Fernstudium zu tun. Eine Regel, an die zu halten mir sehr schwer fiel.

Trotz dieses Verbots tauchte bald darauf ein neues Problem auf: Ich hatte die Schule bei ihrer Überarbeitung des Heilpraktikerkurses im Lernen überholt und das zuschicken des nächsten Ordners mit Lehrmaterial verzögerte sich dadurch. Ich las die Bücher durch und drängelte, bis die Ordner endlich kamen. Beim nächsten Mal dauerte es noch länger, bis ich die Geduld verlor und darum bat, von jetzt ab die alte Version des Kurses zugeschickt zu bekommen.

Da mir das alles zu langsam ging, begann ich nebenher Bücher über verschiedene heilkundliche Themen zu lesen.

Später hatte ich großen Spaß daran, zu erzählen, wie lange ich gebraucht habe, um den Stoff für die Heilpraktikerprüfung zu lernen: ein 3/4 Jahr. Und ich habe die Prüfung bestanden. Jeder, der weiß, wieviel Arbeit das ist, ist dann sprachlos.

Dieses Hyperfocussieren ist ein typisches Merkmal von Menschen mit ADHS - nur wird das nicht thematisiert, weil alle sich damit beschäftigen ADHS mit einer Krankheit zu verwechseln, was es eben nicht wirklich ist. Die Veranlagung zu ADHS ist eine Anpassung an die Anforderungen, die situationsgerechtes kreatives Arbeiten stellt. Wie jede solche Anpassung hat sie bei anderen Aufgabentypen eindeutige Nachteile.

Diese starke intrinsische Motivation kann man auch künstlich erzeugen, indem man dafür sorgt, daß jeder Handgriff sich lohnt und gleich als "fertiges" Arbeitsergebnis genutzt werden kann, daß man an jedem Totpunkt eine Stelle findet, wo man weiterarbeiten kann und daß die Arbeit dadurch insgesamt stark selbstbelohnend wird. Dieses Prinzip habe ich angewandt, als ich mir überlegt habe, wie ich meine Internetseite gestalte.
VA238.1.3 Kersti: Ich habe das Internet noch nicht fertiggeschrieben!

 
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1.2 Wandernde Gedanken

Es gibt aber tatsächlich ein Problem mit Motivationen: Wer nicht ADHS hat, kann sich, wenn er neun Gründe hat, etwas nicht zu tun und elf dasselbe zu tun, einen von diesen zwanzig Gründen aussuchen und sich entscheiden, es zu tun. Dann fängt er an und macht es eben. Wenn er irgendwo nicht weiterkommt, denkt er über die Lösung des Problems nach oder macht eine echte Pause.

Wenn man ADHS hat funktioniert das genau so lange, wie man sich mit einem interessanten Teil der Arbeit beschäftigt, der die gesamte Konzentration erfordert, damit man ihn überhaupt bewältigen kann. Wenn man dann an einen Punkt kommt, an dem man nicht weiterkommt, fangen die Gedanken an zu wandern.

Beispielgeschichte, Kersti:

Wandernde Gedanken...

Dabei beginnen sie ihre Wanderschaft bei der Arbeit und dem was vom Arbeitsplatz aus sichtbar ist: die Blumen, die gegossen werden müßten, "Wie könnte ich jetzt bloß weiterschreiben?", die neun Gründe es nicht tun zu wollen und die elf es zu wollen ... da die Stelle gerade so frustrierend ist, fallen die Gründe es nicht zu wollen irgendwie viel leichter ein ... "Wie mache ich das jetzt nur?" ... "Himmel - ich muß ja noch den Brief zur Post bringen!" ... "Ach nein ich wollte doch hier weiterschreiben" ...

Das Ganze ist sehr anstrengend - und trotzdem kommt man nicht weiter.

Abgebrochen wird die Arbeit trotzdem meist erst, wenn sich eine andere Aufgabe ergibt die entweder wichtiger ist oder dringender als sie - wenn die Gedanken lange genug wandern, findet sich halt immer etwas was mehr bringt als ein fruchtloses über einer Aufgabe grübeln je bringen kann. Wozu hat man schließlich seine Kreativität?

Kurz zusammengefaßt ist das Problem des ADHSlers nicht zu wenig Motivation sondern zu viele und zu unterschiedlicher Motivationen. Deshalb fangen Menschen mit ADHS oft vieles an und bringen nichts zuende.

 
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1.3 Schlechte Arbeitsergebnisse wurden oft unnötigerweise durch Lehrer verursacht

Als Betroffener weiß man natürlich warum man wann Probleme hat und sucht dafür Lösungen. Lehrer haben mir oft meine Lösungen für typische ADHS-Probleme verbieten wollen.
Beispielgeschichte, Kersti:

Malen um die Aufmerksamkeit im Klassenzimmer zu halten

Wie ich and anderer Stelle schon schrieb, zähle ich eher zum Träumertyp von ADHS und mein Hauptproblem im Unterricht war, daß ich statt zuzuhören leicht in Traumwelten abgedriftet bin. Mitschreiben ging nicht, da durch meine Legasthenie schreiben so anstrengend war, daß ich nichts mehr vom Unterricht mitbekommen habe. Daher habe ich im Unterricht immer gemalt. Das Malen band gerade genug Aufmerksamkeit daß ich den Unterricht immer noch mitbekam und nicht völlig in Traumwelten abdriften konnte.

Die Lehrer versuchten mir diesen Trick zu verbieten, obwohl ich erklärt hatte daß ich so besser aufpassen konnte und versuchten mich - erfolglos - beim nicht aufpassen zu erwischen. Obwohl sie sich noch jahrelang über die von mir gemalten Blümchen und Pferde überall in den Heften beschwert haben, habe ich mir das schlicht nicht verbieten lassen. Ich wußte, daß sie über das malen nur meckern konnten, daß es niemanden wirklich störte, aber wenn ich im Unterricht völlig in Traumwelten abdriften würde, würde ich die Schule nicht bestehen und das wäre ein echtes Problem.

Und an anderer Stelle Leistungsanforderungen gestellt, die schlicht unsinnig waren.
Beispielgeschichte, Kersti:

Zahlenkaiser: Die Stimme des Lehrers hat mir buchstäblich wehgetan

In der Schule gab es ein Spiel, das ich haßte. In in jede Zimmerecke mußte sich ein Kind stellen. Dann rief der Lehrer eine Matheaufgabe und derjenige, der die richtige Lösung am schnellsten wußte, rief sie laut und durfte dann zur nächsten Ecke weiterlaufen und das dortige Kind rauswerfen.

Ich hätte die Lösung der Aufgaben meist gewußt. Aber jedesmal, wenn er die Frage rief, zuckte ich heftig zusammen, als hätte er mich geschlagen. Dann war mein Kopf völlig leer. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, daß mir diese laute Stimme regelrecht wehtat. Das hätte nämlich wieder einmal niemand verstanden. Ich bemühte mich, meinen Körper wieder so weit unter Kontrolle und zur Ruhe zu bekommen, daß mein Gehirn bereit war mir die Antwort auf die Frage zu liefern. Und als es mir nach zwei, drei Sekunden endlich gelungen war, hatte natürlich längst jemand anders die Frage beantwortet.

Ich denke es ist durchaus eine gute Idee dieses Spiel im Unterricht zu spielen - den anderen hat es Spaß gemacht. Aber für mich war es eine Folter - und das buchstäblich, denn die Worte haben mir so wehgetan, als wären sie tatsächlich Schläge gewesen. Einem Kind, wie ich es war, sollte man nicht zumuten, bei einem solchen Spiel mitspielen zu müssen. Denn wenn ich nicht mitgespielt habe, konnte ich meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes als den Lehrer richten und seine Stimme kam dadurch nicht so überlaut in meinem Kopf an. Der Unterschied in meinem subjektiven Lautstärkeempfinden zwischen nicht mitspielen oder mitspielen müssen war so groß wie zwischen anbrüllen und normalen Sprechen, obwohl nicht zu bezweifeln ist, daß der Lehrer nicht extra wegen mir besonders brüllen würde.

Die Erwachsenen haben versucht, dieses Problem zu beheben, indem sie mit mir rechnen geübt haben. Nun - wenn der Lehrer im entspannten Ton gesprochen hätte, hätte ich ohne zusätzliche Übung Erfolg haben können. Zumindest waren meine Mathearbeiten nie so schlecht. Bei diesem Spiel und dem Ton des Lehrers aber hätte alle Übung der Welt mir nicht helfen können.

Kurz zusammengefaßt wurde da von mir - völlig unnötigerweise, da man in solchen Situationen normalerweise nicht rechnen können muß! - erwartet, daß ich eine Aufgabe erfülle, die ich mit meiner Veranlagung nicht erfüllen kann. Gleichzeitig nahmen Eltern und Lehrer eine völlig falsche Ursache für mein Versagen an - nämlich mangelnde Übung - weil sie sich die korrekte Ursache: "Die Stimme des Lehrers tut mir buchstäblich weh" einfach nicht vorstellen konnten. Deshalb mußte da jeder Lösungsversuch ebenfalls in die Irre gehen.

Damit daß mich viele Reize, die anderen geringfügig vorkommen, bis an die Grenze meiner Belastbarkeit bringen, stehe ich nicht allein. Laut den Büchern von Autor: Doris Ryffel-Rawak ist das für ADHSler typisch.3.

Mir war als Kind durchaus bewußt, daß das mein Problem war und daß ich deshalb bestimmte Dinge - wie in die Disco gehen - nicht tun sollte, weil sie für mich zu viel Streß bedeuten. Doch gerade den schlimmsten Stressor hat ein Kind nicht in der Hand. Schule ist Pflicht. und das nicht etwa, weil es grundsätzlich keine Alternativen gäbe, wie ein Kind das lernen kann, das zu lernen ist.

Hinzu kommt, daß die allermeisten Menschen, wenn man ihnen sagt, daß bestimmte Wahrnehmungen unerträglich überwältigend sind, obwohl jeder normale Mensch sie nicht so empfindet, einem schlichtweg nicht glauben und absolut nicht bereit sind Rücksicht zu nehmen.

 
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1.4 Hyperfocussieren als Ursache der subjektiv empfundenen zu großen Lautstärke

Wenn man sich fragt, warum ich denn für meine Bedürfnisse so wenig Verständnis geerntet habe, muß man einen genaueren Blick auf den Reiz werfen, der mich buchstäblich vor Schreck hat erstarren lassen.
Beispielgeschichte, Kersti:

Die Stimme des Lehrers erschien mir subjektiv wie Krach über der Schmerzgrenze, war aber objektiv wohl fast normale Sprechlautstärke

Mir kam die Stimme des Lehrers vor, als wäre sie so laut, als hätte er aus vollem Halse gebrüllt, so laut, daß einem die Ohren davon wehtaten, wie ich es formuliert hätte. Tatsächlich war der Schmerz aber nicht in den Ohren selbst, sondern er hatte mit der Geräuschauswertung zu tun. Die Ohren selber haben keinen Schaden genommen, sondern der Schmerz, der durch Überforderung bei der Auswertung entstand, wurde aber durch das System auf die Ohren projiziert. Die Stimme, die ich erinnere, kam mir, wenn ich mitspielte, erheblich lauter vor, als wenn ich nicht mitspielte. Tatsächlich war es nur ein etwas schärferer Ton, der gar nicht so laut gewesen sein konnte, wie er mir vorkam, denn die Stimme hatte sich nicht überschlagen sondern hatte von der Zusammensetzung des Stimmenklangs ein Spektrum wie bei normalem Sprechen, nur etwas schärfer. Es war also ziemlich sicher in Wirklichkeit ein Befehlston in näherungsweise normaler Sprechlautstärke.

In meiner Grundschulzeit war ich der Ansicht, daß der Lehrer ganz unzumutbar laut gebrüllt hat. Mir war bewußt, daß ich die Lautstärke subjektiv leiser wahrnahm, wenn ich nicht mitspielte, obwohl er selbstverständlich dann nicht leiser gesprochen hat. Ich dachte aber nicht darüber nach, warum mir das wie ein Geräusch, das so laut ist, daß es über der Schmerzgrenze liegt, vorkam, wenn ich mitspielen mußte und warum dasselbe Geräusch eine erträgliche Lautstärke zu haben schien, wenn ich nicht gezwungen war, mitzumachen.4.

Wenn ich über mein Problem geredet habe hätte ich gesagt:
"Der schreit bei dem Spiel so laut so laut!"
Und wenn man das dem Lehrer gesagt hätte, wüßte er gar nicht wovon ich rede, da seine Lautstärke nun wirklich nicht ungewöhnlich wäre. Auch meine Mitschüler hätte mir sicherlich nicht einmal zugestimmt, daß er laut spricht.

Es ist also als hätte ich irgendwo im Ohr einen Verstärker eingebaut, der das Geräusch so sehr verstärkt, daß dann im Gehirn die Überlastungsalarm - der Schmerz - losgeht.

Ich war aber - wie das für Grundschüler typisch ist, nicht in der Lage mich so differenziert auszudrücken, daß verständlich wurde, was mein Problem ist.

Dasselbe Problem, der unerträglichen Verstärkung eines Reizes wenn ihm eine hohe Priorität eingeräumt wurde, erlebte ich auch beim Auto fahren.
VB86. Kersti: Autofahren ...

Ich halte diese Phänomen für eine Variante des Hyperfocussierens. Alle Menschen nehmen das, worauf sie sich konzentrieren, stärker wahr als Reize auf die sie sich nicht konzentrieren. Es ist aber die Ausnahme, daß die Wirkung des Konzentrierens so stark ist, daß man vor Schmerzen schreien könnte!

Umgekehrt kommen wenn ich auf etwas Anderes konzentriert bin, Umweltreize oft gar nicht bei mir an.

Beispielgeschichte, Kersti:

Wenn ich lese: "Erde an Kersti ..."

Eine Tätigkeit, bei der ich regelmäßig hyperfocussiere, ist lesen. Ich lese etwa drei mal so schnell wie ich sprechen kann und bin dann so in das Buch vertieft, daß ich für nichts anderes mehr Aufmerksamkeit habe. Bücher sind auch verführerisch. Im Gymnasium hatte die Schülerbücherei in der ersten großen Pause offen, was ich zu früh fand, denn ich hätte es vorgezogen, mir die Bücher in der zweiten großen Pause auszleihen, denn letztlich war jedes Buch, das mir lesenswert schien, zu verführerisch. Egal was ich mir geliehen habe, ob Fantasy, Erfahrungsberichte oder Sachbuch, viel zu leicht passierte es mir, daß ich nicht widerstehen konnte, im Unterricht nachzuschauen wie es weitergeht und dann nichts mehr mitbekommen habe, weil ich mich nicht mehr davon losreißen konnte.

Wenn ich dann keinen ganz so triftigen Grund mehr hatte, nicht lesen zu dürfen, habe ich natürlich erst recht gelesen. Wenn ich also von der Schule zur Bushaltestelle gegangen bin, hatte ich ein Buch vor der Nase. Das war kein Problem, denn über den Buchrand hinweg, sieht man durchaus genug, um Hindernissen auszuweichen und den Weg zu finden. Das heißt aber nicht, daß daß ich auch wirklich mitbekommen würde, was ich da sehe. Die Arbeit überlasse ich dann meinem inneren Autopiloten, der das durchaus alleine hinbekommt.
VB156. Kersti: Beispiel: Der innere Autopilot
Es sei denn natürlich... Irgendwann - und das ist nicht nur einmal vorgekommen, stellte sich mir jemand in den Weg. Als ich automatisch auswich, ging er dahin, wohin ich auswich und stellte sich mir wieder in den Weg. Das machte er, drei oder vier mal, bis ich schließlich das Lesen unterbrach, damit ich schnell genug reagieren konnte, um tatsächlich an ihm vorbeizukommen.

Auf den Bus warten, den richtigen Bus identifizieren, nach Hause fahren, an der richtige Haltestelle aussteigen, nach Hause gehen, waren Tätigkeiten, die genauso automatisch passierten. Wenn es gar nicht anders ging, weil ich für irgendetwas beide Hände brauchte, habe ich das Lesen schon unterbrochen, aber die meiste Zeit, hatte ich das Buch vor der Nase und der Rest war so geübt, daß er auch voll automatisch funktionierte, ohne daß ich bewußt registriert habe, wie ich diese Routinetätigkeiten durchführte.

Entsprechend hatte dann auch jeder ein Problem, der für irgendetwas wirklich meine bewußte Aufmerksamkeit brauchte. Wenn man nicht aufpaßt, bekommt man nämlich nur die Antworten meines inneren automatischen Anrufbeantworters und der gibt zwar Antworten, die durchaus ein wenig sachbezogen wirken können, aber ich höre ihn gewöhnlich nicht ab.
"Erde an Kersti..." als ein Spruch mit denen solche Kontaktaufnahmeversuche beginnen, war dann auch etwas was mir sehr gut bekannt ist.

Wichtig ist, daß in dem Buch genug Neues drin steht, daß mein Geist auch wirklich beschäftigt ist. Ich habe sehr früh begonnen, Tageszeitung zu lesen, aber wieder damit aufgehört, als ich erwachsen war, weil dann jeder Artikel für mich nur noch den Inhalt eines einzigen neuen Satzes hatte. In der Lehre habe ich ein Jahr lang Spiegel und Stern gelesen, danach wiederholte sich zu viel von den Hintergrundinformationen, die in jedem Artikel stehen. In der Lehre begann ich bei der Sachliteratur von normalen Themen auf ausgefallene Themen und Außenseitermeinungen auszuweichen, weil die meisten Bücher zu wenig Neues enthielten, um noch ein Hyperfocussieren bei meiner Lesegeschwindigkeit zu ermöglichen. Mengenmäßig entspricht mein Lesekonsum ungefähr jeden zweiten Tag ein Buch, auch wenn ich jetzt eher wissenschaftliche Artikel lese, die ich im Internet finde.

Selbstverständlich landet nicht jeder ADHSler bei wissenschaftlicher Literatur. Das passiert nur dann, wenn man gleichzeitig entsprechend begabt und interessiert ist. Daher habe ich dasselbe Phänomen, mit der Betonung auf anderen Aspekten der Situation, auch als Beispiel für mögliche Auswirkungen von Hochbegabung gewählt.
O6. 4.2.3.1 "Paß auf, daß du nicht vor eine Straßenlaterne rennst!"

Lesen benutze ich deshalb beim Busfahren, um mich von unerwünschten Umweltreizen abzuschirmen. Dasselbe Phänomen scheint es auch beim Autismus zu geben. Autor: Temple Grandin sagte in einer Rede beispielsweise, daß sie sich von bestimmten Geräuschen regelrecht bombardiert gefühlt hätte - so als sei "ein Hörgerät auf 'superlaut' gestellt worden."6. S.450

 
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1.5 Wann arbeitet ein ADHSler gut, wann schlecht?

Man kann einen ADHSler durchaus bei der Arbeit halten, indem man ihn immer wieder freundlich, respektvoll und humorvoll daran erinnert weiterzumachen, erreicht damit aber nur mittelmäßige Ergebnisse.

Wenn ich eine Arbeit außergewöhnlich schnell und gut erledige habe ich

Wenn ich bei einer Arbeit Mißerfolge hatte Für beide Listen gilt, daß all diese Faktoren eine Rolle spielen aber weit überdurchschnittliche oder unterdurchschnittliche Leistungen auch schon auftreten, wenn nur ein Teil der Faktoren vorhanden sind. Hierbei überlagern sich mehrere Dinge. ADHS ist zwar eine Minderheitenveranlangung, die zwangsläufig damit verbunden ist, daß man manche Dinge besser oder schlechter kann als der Durchschnitt, daher dürfte der erste Punkt durchaus auf alle ADHSler zutreffen. ADHSler sind für Routinearbeiten unterdurchschnittlich begabt, für kreatives Arbeiten überdurchschnittlich begabt. Daneben spielt das ADHS-unabhängige persönliche Begabungsspektrum eine Rolle. Daß es damit bei einem von ihnen so schlimm ist, wie bei mir, halte ich für sehr, sehr selten. Meine Kombination von ADHS mit Hochbegabung, völliger Unsportlichkeit und Legasthenie ist schon sehr speziell!

Die anderen beiden Punkte sind primäre ADHS-Symptome und treffen auf alle ADHSler zu.

 
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2. Nicht durch Lob und Strafe konditionierbar?

Buch: B131.6 Hallowell, Edward & Ratey, John / Zwanghaft zerstreut oder die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein, S.416.
Seiner (Paul Wenders) Meinung nach ist der mangelnde Sinn des ADD-Kranken für die Folgen seines Tuns darauf zurückzuführen, daß ihm infolge verminderter Aktivität in den Nervensystemen, die Belohnungs- und Strafreaktionen zumessen, die Fähigkeit abgeht, durch Lob und Strafe konditioniert zu werden.

Im Gegenteil überreagieren Kinder mit ADHS sowohl auf Lob als auch auf Strafe. Mit Lob kann man nicht viel falsch machen: Lob führt zu mehr Motivation und mehr Motivation bringt mehr Konzentration auf die Arbeit und mehr Wohlbefinden.

 
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2.1 Erlernte Hilflosigkeit wegen Fehlanforderungen

Strafen sind dagegen sehr problematisch. Viel zu schwache Reize können den ADHSler in einen Zustand bringen, in dem er nicht mehr arbeitsfähig ist.

Wie ich oben schon schrieb, brachte mich beim Spiel Zahlenkaiser schon die Art der Aufgabenstellung in einen Zustand, in dem ich nicht mehr Reaktionsfähig war.
VA265.1.1 Kersti: Zahlenkaiser: Die Stimme des Lehrers hat mir buchstäblich wehgetan
In dem Beispiel mit dem Autofahren, war es die Kritik, die bewirkt hat, daß ich nicht mehr richtig fahren konnte.
VB86. Kersti: Autofahren ...
Wenn eine scharfe Kritik schon schlimmer als eine Strafe wirkt, dann braucht man garantiert keine zusätzlichen Strafen, sondern man muß sich hüten, um dem ADHS-Kind nicht zu vermitteln, daß es sowieso keine Chance hat, weil die für es unvermeidlichen Flüchtigkeitsfehkler bei den Bezugspersonen zu Reaktionen - wie anbrüllen - führen, die die Konzentration noch unmöglicher machen, so daß noch mehr Flüchtigkeitsfehler entstehen. Am Ende steht dann ein Zustand, wo das Kind denkt daß es sowieso keine Chance hat, weil die erwachsenen Bezugspersonen jeden Versuch, die eigene Konzentration wieder herzustellen gekonnt blockieren.

Hinzu kommt, daß schon die Situation, in der dieser negative Teufelskreis normalerweise auftritt, alle negativen Gefühle wieder aufruft, die bei vorhergehenden Fehlversuchen entstanden sind. Deshalb geraten Kinder mit ADHS durch Kritik leicht in einen negativen Teufelskreis, in dem sie überhaupt nicht mehr mit den Hausaufgaben beginnen, weil ja doch wieder "alles falsch" wird. Die auf Strafen beruhende Abneigung wird dann leicht so stark, daß man sie beim besten Willen nicht mehr überwinden kann. Dieses Problem ist ja in der Literatur regelmäßig erwähnt.

Abgesehen davon wirkt das Verhalten der Lehrer auf Schüler mit ADHS wie ein inkonsequenter Erziehungsstil: Für die große Anstrengung, die es bedeutet, eine sogenannte einfache Routineaufgabe zuendezubringen, bekommt man wegen der für den ADHSler unvermeidbaren Flüchtigkeitsfehler auch noch Schelte.

Dafür wird man für die kreativen Ideen, die man als echter ADHSler zu tausenden aus dem Ärmel schütteln kann überschwänglich gelobt - oder man bekommt mitgeteilt: "Das geht jetzt zu weit!" - Es ist nicht vorhersehbar, was passiert. Außer: je interessanter die Idee, desto größer die Gefahr, daß man nicht darüber weiterreden darf oder der Lehrer sogar wütend wird, weil der ADHSler ohne es zu wissen, das Ende der Unterrichtsstunde vorwegenommen hat.

Ein Beispiel aus meinem Studium, wo beides im Doppelpack kam war Folgendes:
VB88.1 Kersti: ADHS: Das einfache ist schwierig und das schwere ist einfach

Wenn ein Kind in eine Verweigerungshaltung geht, weil es immer wieder erlebt, daß das, was von ihm verlangt wird für es nicht machbar ist, so handelt es sich hierbei nicht um mangelnde Konditionierbarkeit, sondern um ein aus der Verhaltensforschung bekanntes Konditionierungsergebnis namens "erlernte Hilflosigkeit"7..

Bezugspersonen dürfen schlechte Leistungen selbstverständlich nicht für gute erklären, um die Gefühle des Schülers zu schonen, denn dann würden sie eine ihrer wichtigen Aufgaben nicht Erfüllen: Orientierung zu geben, wie gut ein Schüler ist. Sie dürfen aber auch nicht ständig auf ihm rumhacken weil er nicht durchschnittlich veranlagt ist, sondern sollten ihm beibringen, wie er mit seiner Veranlagung gut umgeht und zu einem passenden Lebensentwurf kommt, wo er Aufgaben hat, die ihn weder über- noch unterfordern.

 
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3. Haben ADHSler Wutanfälle weil sie unbeherrscht sind?

3.1 Roß und Reiter Problem bei ADHS: Nicht die Selbstbeherrschung ist schlechter sondern die Gefühle stärker

Oft wird behauptet, ADHSler hätten Wutanfälle "weil sie unbeherrscht sind".

Tatsächlich haben ADHSler von Haus auf ein System das auf alle äußeren Reize stärker reagiert und auch heftigere Gefühlsschwankungen hat. Nicht die Selbstbeherrschung ist schlechter, sondern die Gefühle, die sie beherrschen wollen, sind stärker, so daß eine normale Fähigkeit der Selbstbeherrschung oder sogar eine überdurchschnittliche Selbstbeherrschung nicht mehr reicht, um das System im Gleichgewicht zu halten.
VA254.2 Kersti: Sind ADHS-Kinder schlechter darin, eigene Gefühlszustände zu regulieren als andere Kinder?

Bei den Beispielen mit dem Spiel Zahlenkaiser und dem Autofahren aber auch bei dem Beispiel mit dem in meine Lieder reinreden, was ich weiter unten beschreibe, haben äußere Reize, die den meisten Menschen harmlos erscheinen, sich wie Folter angefühlt und ich habe entsprechend heftig darauf reagiert.
VA265.1.1 Kersti: Zahlenkaiser: Die Stimme des Lehrers hat mir buchstäblich wehgetan
VB86. Kersti: Autofahren ...
VA265.3.3 Kersti: Wenn mich jemand mitten in einem Lied unterbricht, zerreißt mir das das Herz und sie behauptete ernsthaft, solche Empfindungen gäbe es nicht
Hinzu kam, daß ich, wenn ich um Rücksichtnahme gebeten habe, nur erzählt bekommen habe, solche Gefühle gäbe es nicht.

Aus meiner heutigen Sicht weiß ich immer noch nicht, ob es irgendeinen Trick gegeben hätte, mit dem ich Eltern und Lehrern hätte bewußt machen können, daß sie ihr Verhalten ändern müssen, weil sie mir etwas antun, was mich wirklich quält, wie normale Menschen sich fühlen, wenn man sie foltert. Im Grundschulalter fehlten da einige grundlegende Fähigkeiten, die ich gebraucht hätte um es besser zu machen.
VB50. Kersti: 4.3 Erst Jugendliche lernen, bei ihrer Erklärung den Entwicklungsstand des anderen zu berücksichtigen
Später war ich lange einfach zu entmutigt.

Letztlich ist es ja so, daß ich eine Mutter habe, die ihren Kindern ungewöhnlich viele Freiheiten gelassen hat, die ungewöhnlich kreativ darin war, Lösungen für ungewöhnliche Erziehungsprobleme zu finden. Außerdem war ich durchaus hartnäckig darin, diese Lösungen einzufordern und trotzdem konnte ich ihr nicht bewußt machen, daß ich ein Problem hatte, das eine solche Lösung erfordert.

 
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3.2 Wutanfälle können helfen Streß auf ein handhabbares Maß abzubauen

Mit den Wutanfällen, die von Fachleuten meist auf Unbeherrschtheit zurückgeführt werden, ist es ähnlich.

Beispielgeschichte, Kersti:

Wozu Wutanfälle nötig sind

Ich sitze am Computer und nehme eines meiner Lieder auf, um es auf die Internetseite zu setzen. Mittendrin mache ich einen Fehler, was mich ärgert. Der Ärger stört meine Konzentration so, daß ich kaum eine halbe Textzeile weiter den nächsten Fehler mache. Dann war ich richtig genervt und verspannt. Ich spielte, um mich zu entspannen eine Weile leise auf der Guitarrre, doch kaum begann ich wieder am Anfang der Strophe, machte ich kurz nach einander drei weitere Fehler.

Schließlich sagte ich mir, daß es so keinen Zweck hat und griff zu einer durchgreifenderen Entspannungsmaßnahme: Ich verfluchte ausführlich den Computer, der natürlich gar nichts dafür konnte. Danach war ich so weit entspannt, daß ich die restlichen Strophen des Lieder auf einen Rutsch fehlerfrei aufnehmen konnte.

Das ich am Computer einen Wutanfall habe, ist selten. Hier habe ich die Situation im Griff und organisiere mir alles so weit wie möglich so, daß ich mich nicht so weit verspanne daß ich nicht mehr sinnvoll arbeiten kann. Und wenn ich rechtzeitig merke, daß ich Gefahr laufe, mich innerlich zu verspannen, ergreife ich Gegenmaßnahmen, bevor es so weit ist, daß ein Wutanfall das einzige ist, was die Spannung noch ausreichend abbauen kann. In Situationen, in denen Personen die Arbeitsbedingungen kontrollieren, die nicht das geringste Verständnis dafür aufbringen, daß ich andere Arbeitsbedingungen brauche, als die meisten Menschen, ist es aber manchmal unvermeidbar. - Denn ein Wutanfall schafft mir bei weitem nicht so viele Probleme, wie ich hätte, wenn ich meine Arbeit nicht bewältigen könnte, weil ich innerlich verspannt bin und deshalb die Flüchtigkeitsfehlerrate ins Unermeßliche steigt.

Sofern die Spannung in einem Rahmen liegt, wo man den Ausbruch noch kontrollieren KANN - daß aber "keinen Wutausbruch haben" eben oft noch schwerwiegendere Folgen hat, wie einen haben. Daß Wutausbrüche bei allen Menschen - nicht nur ADHSlern - durchaus helfen auf für den Körper gesunde Weise den Streß abzubauen, ist ein Ergebnis der allgemeinen Streßforschung2. S.. Der ADHSler, der oft durch geringe Reize ein extremes Streßlevel erreicht, ist aber oft so dringend auf eine Möglichkeit angewiesen, seinen Streß abzubauen, daß andere Faktoren nachrangig sind, weil sonst gar nichtss mehr funktioniert. Während die zwischenmenschlichen Folgen eines Wutanfalls für jeden Außenstehenden beobachter offensichtlich sind, ist die absoluten Notwendigkeit eines Streßabbaus und die Wirkung auf die Konzentrationsfähigkeit nur für den Betroffenen selbst offensichtlich.

Wenn Außenstehende den Wutausbruch mitkriegen, tun sie oft ihr Bestes, um den Betreffenden von der Arbeit abzubringen, die er mit Hilfe des Wutausbruchs besser bewältigen können wollte. Sie schimpfen nämlich mit dem Betreffenden, weil er einen Wutausbruch hatte, was leicht zu einem Teufelskreis ausartet, bei dem sich die Arbeitsfähigkeit schließlich gar nicht mehr wiederherstellen läßt. Die Situationen wo der ADHSler unmittelbar vom Spannungsabbau profitiert, weil ihm niemand das mehr wegnimmt, bekommen sie dagegen eher nicht zu sehen, weil das dann am Besten funktioniert, wenn man alleine ist und niemand den Wutausbruch mitbekommt. Und genau da ist auch das sinnvolle Anwendungsgebiet des Streßabbaus durch Wutausbrüche: Such dir einen Ort, wo das niemanden stört und wo nichts kaputt geht und reagier dich ab. Alles Andere funktioniert nicht, weil andere darunter leiden und entsprechend reagieren.

Das Problem daran ist: Ein Schüler darf normalerweise nicht die Schulklasse verlassen, wenn er sich abreagieren muß, um wieder konzentrationsfähig zu werden.

 
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3.3 Wutanfälle als letzte Stufe der Konflikteskalation bei Ignoranz gegenüber den Besonderheiten des ADHSlers

In anderen Fällen ist nicht der Spannungsabbau die Absicht hinter dem Wutanfall, sondern es ist eine Reaktion auf die Ignoranz, die den Bedürfnissen des ADHSlers entgegengebracht wird.
Beispielgeschichte, Kersti:

Wenn mich jemand mitten in einem Lied unterbricht, zerreißt mir das das Herz und sie behauptete ernsthaft, solche Empfindungen gäbe es nicht

Im Falle der Lehrer habe ich das gar nicht erst versucht, weil ich ihre Ignoranz für undurchdringlich hielt. An meine Mutter habe ich dagegen höhere Ansprüche gestellt. Wie bei oben bei dem Spiel Zahlenkaiser, gab es auch mit meiner Mutter Situationen, bei denen mir etwas, was sie sagte oder tat regelrecht wehtat.

Ein Beispiel dafür ist, daß es mich immer mitten ins Herz traf, wenn sie mitten in einem Lied sagte, daß ich mit dem Singen aufhören soll. Das war bei ihr einfach Lärmempfindlichkeit in einer Zeit, über die sie später gesagt hat, sie hatte da richtig um ihr Überleben gekämpft. Nur finde ich nicht, daß man anderthalb Lieder mit einer solchen Bemerkung warten muß, nur um mitten in ein sehr kurzes Lied reinzureden, von dem sie sehr gut weiß, daß es nach den nächsten beiden kurzen Liedzeilen zuende ist. sie hätte es nun wirklich vor Beginn des Liedes oder nach desen Ende sagen können!

Wenn ich singe, bin ich emotional weit offen und gehe innerlich sehr stark mit dem Lied mit. Eines meiner Lieblingslieder mitten im Lied abzubrechen, vermittelte mir das Gefühl innerlich zu zerreißen. Davon tat mir buchstäblich das Herz weh. Außerdem brauchte ich die Lieder um - ja man kann am ehesten sagen, daß ich die Lieder benutzt habe, um mich selbst wieder richtig zu stimmen, wie man eine Guitarre stimmt, damit sie wieder richtig klingt. Es gibt Situationen, in denen ich emotional so verspannt bin, daß ich unerträgliche emotionale Schmerzen habe, wie ein Mensch körperliche Schmerzen bekommt, wenn er einen Krampf im Bein bekommt. Ich bin dann emotional überhaupt nicht mehr in der Lage, Alltagssituationen und den zwischenmenschlichen Umgang zu bewältigen, genauso wenig, wie man mit einem Krampf im Bein laufen kann, weil die Muskeln sich nicht mehr auf Befehl entspannen und anspannen. Dabei hilft mir Singen oft, mich wieder so weit einzurenken und zu entspannen, daß ich mich wieder auf Menschen einlassen kann. Das ist also nicht einfach ein Hobby oder so, sondern sehr wichtig, um meine Handlungsfähigkeit wieder herzustellen. Wenn mir jemand nach einem Lied sagt, daß ihn das stört, ist das kein Problem, dann ziehe ich mich zm Singen in mein Zimmer zurück. Mitten in einem Lied ist das ein Unding, weil ich - genau dann wenn ich an Orten und in Situationen singe, wenn man normalerweise nicht singt - schon Schwierigkeiten habe und mich völlig verspannt fühle. Genau dann vertrage ich das gar nicht.

Einige Male habe ich ihr dann einfach gesagt sie soll das lassen und bis zum Ende des Liedes warten, ehe sie etwas sagt. Keine Reaktion.

Danach erklärte ich ihr mehrfach ausführlich warum ich es unzumutbar von ihr fand, daß sie das tat. Sie behauptete ernsthaft, solche Empfindungen gäbe es nicht. Ich war sprachlos. Was glaubt sie eigentlich warum ich jedesmal so empört war? Aus Jux und Dollerei?

Als das Erklären bei mehreren Versuchen auch nichts brachte, bekam ich beim nächsten mal einen Wutanfall. Meine Mutter regte sich auf und meinte, das wäre völlig unangemesen. Ich sagte ihr, daß ich das gar nicht fand, denn auf Bitten und Erklärungen hört sie ja nicht. Auch das führte nicht zu mehr Einsicht, obwohl ich es mehrfach ausprobierte.

Tja, wenn jemand so gar nicht bereit ist einzusehen, daß da etwas ist, was Rücksicht erfordert - was soll man dann noch tun? Ich habe mich sehr viel in mein Zimmer zurückgezogen, weil das, was ich da tue - nämlich meditieren - mir immerhin hilft, wieder ins Gleichgewicht zu kommen, während andere mir regelmäßig erklären, die Bedürfnisse, die ich äußere, könnten gar nicht existieren, weil es so etwas nicht gibt.

Kurz zusammengefaßt kann man sagen, daß die ADHSler im Falle von Wutausbrüchen durchaus die Folgen ihres Tuns angemessen berücksichtigen - nur sind viele die sich für Fachleute zum Thema halten offensichtlich nicht in der Lage, die Betroffenen zu fragen, was in ihnen vorgeht, wenn sie in bestimmter Weise reagieren und interpretieren deshalb den erstaunlichsten Unsinn in das Verhalten der Kinder mit ADHS hinein.
VA268. Kersti: Warum mich Bücher über ADHS oft wütend machen
Menschen die anders veranlagt sind, brauchen ein abweichendes Weltbild, um sich angemessen in die Welt einordnen zu können, weil ihr Weltbild ihre abweichenden Wahrnehmungen und Erlebnisse ausreichend berücksichtigen muß, so daß es ihnen die Orientierung bietet, die für eine Anpassung nötig ist.
Kindern unter 14 Jahren fehlt grundsätzlich die Fähigkeit sich auf andere Weltbilder einzustellen, daher muß diese Leistung von den Erwachsenen kommen.
VB50. Kersti: 4.3 Erst Jugendliche lernen, bei ihrer Erklärung den Entwicklungsstand des anderen zu berücksichtigen
VB50. Kersti: 4.4 Ein Begriff für unterschiedliche Lernvorraussetzungen aufgrund unterschiedlicher Weltbilder und Entwicklungswege, ergibt sich erst auf Niveau drei der Weltbildentwicklung, Stufe 5
VB50. Kersti: 4.5 Ein Begriff für unterschiedliche Lernvorraussetzungen aufgrund unterschiedlicher Weltbilder ist nötig, um unterschiedliche Lernvorraussetzungen aufgrund unterschiedlicher Veranlagungen tiefgreifend verstehen zu können

 
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3.4 Mit welchem Recht erlauben sich Bezugspersonen mehr Ärger über die für das Kind mit ADHS unvermeidbaren Fehler als sie diesem zugestehen?

Mit dem Abstand, den ich jetzt habe, gibt es noch etwas Weiteres zum Thema "Wutanfälle", das ich unangemessen finde.

Als Kind habe ich alle möglichen verärgerten, unfreundlichen und frustrierten Reaktionen von Lehrern, Eltern und anderen Bezugspersonen erlebt, wenn ich viele Flüchtigkeitsfehler gemacht habe oder Dinge vergessen habe. Sie haben ihre eigene Reaktion als völlig angemessen dargestellt, als wäre es ihr gutes Recht von mir zu verlangen, daß ich Leistungen bringe, die ich mit meiner Veranlagung unter den Bedingungen, die sie geschaffen haben, beim besten Willen nicht bringen konnte.

Wenn ich aber genauso frustriert reagierte wie sie, wozu ich ja mehr Grund habe als sie, weil es mich mehr betrifft als jeden anderen, dann wird diese Reaktion als völlig unangemessen dargestellt. Selbstverständlich bin ich frustriert, wenn ich den ganzen Tag erschöpft bin, Kopfschmerzen habe, meine Gedanken nicht zusammen bekomme, ständig alles drei mal machen muß, weil unvermeidbare Fehler auftreten und dann noch angemeckert werde. Diesen Zustand habe ich auch nicht verursacht, sondern die Schule wurde von anderen Menschen so geschaffen, daß dort zu viele Menschen auf einen Haufen sind und ich ständig überreizt und dadurch zu Tode erschöpft und deshalb nicht leistungsfähig war.

 
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4. Mangelnder Sinn für die Folgen des Tuns?

Buch: B131.6 Hallowell, Edward & Ratey, John / Zwanghaft zerstreut oder die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein, S.416.
Seiner (Paul Wenders) Meinung nach ist der mangelnde Sinn des ADD-Kranken für die Folgen seines Tuns darauf zurückzuführen, daß ihm infolge verminderter Aktivität in den Nervensystemen, die Belohnungs- und Strafreaktionen zumessen, die Fähigkeit abgeht, durch Lob und Strafe konditioniert zu werden.

Ich kenne einige Menschen, die ADHS haben - und die Behauptung auch nur einer von ihren hätte einen mangelnden Sinn für die Folgen seines Tuns, ist schlicht falsch. Alle können sie mir die Folgen ganz gut beschreiben und ihre Verzweiflung, wann immer diese Folgen schlimm sind, ist kaum zu übersehen.

Allerdings übersehen einige Leute die kein ADHS haben die Folgen ihres eigenen Tuns auf den ADHSler und umgekehrt die Folgen des Tuns des ADHSlers auf sich selbst offensichtlich völlig.

Außerdem halten sie unwillkürliche Reaktionen, wie das erstarren bei Schock, oder Flüchtigkeitsfehler und Ungeschicklichkeit bei überreizung, oder Erschöpfung durch überreizung, die dazu führt, daß man sich zu nichts mehr aufraffen kann, für "tun" im Sinne von absichtlichen und beeinflußbaren Handlungen.

Kersti

 
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Quelle

Dieser Artikel beruht auf meinen eigenen Erfahrungen als Betroffene und Therapeutin.
VA248. Kersti: Wie funktioniert Psychotherapie?
Wenn ich therapeutisch arbeiten greife ich oft auf das Wissen meiner feinstofflichen Anteile zurück und integriere geistheilerische Methoden in meine Arbeit.
VA299. Kersti: Fragen beantworten: Das Wissen der eigenen feinstofflichen Anteile
VA131. Kersti: Heilung durch Arbeit an den feinstofflichen Körpern

Weitere Quellen waren:

  1. Autor: Edward Hallowell, Autor: John Ratey: Buch: B131.6 Zwanghaft zerstreut oder die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein (1999) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, ISBN 3-499-60773-5
  2. Autor: Frederic Vester: Buch: B115.3.2 Phänomen Streß. Wo liegt sein Ursprung, warum ist er lebenswichtig, wodurch ist er entartet? (1978) Stuttgart: dtv. ISBN: 3-421-02683-1
  3. Autor: Doris Ryffel-Rawak
  4. Das Phänomen, was ich hier am Beispiel der Stimme des Lehrers im Spiel Zahlenkaiser behandele, kenne ich auch noch heute von mir, daher mögen sich Beobachtungen aus späteren Situationen in denen dasselbe Phänomen aufgetreten ist, mit in dieser Beschreibung mischen. Da ich mit mehr Beobachtungsdaten arbeite, als das Beispiel nahelegt, wird die sachliche Analyse des Problems, dadurch daß es sich nicht um eine reine Kindheiterinnerung handelt, sondern um lebenslange Selbstbeobachtung, genauer und mit höherer Wahrscheinlichkeit richtig.
  5. Autor: Sarina J. Grosswald: Is ADHD a Stress-Related Disorder? Why Meditation Can Help. (Welt: Volltext 1, Welt: 2) In: Autor: Somnath Banerjee: Buch: B131.7 Attention Deficit Hyperactivity Disorder in Children and Adolescents. (2013) InTech, CDOI: 10.5772/50252 (Welt: Volltext)
  6. Autor: Steve Silberman (Aus dem Amerikanischen von Harald Stadler, Barbara Schaden): Buch: B21.6 Geniale Störung. Die Geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken. (2016) Köln: DuMont Buchverlag, ISBN 978-3-8321-9845-9
  7. Autor: Anna Paulitschek: Buch: B126.7.1 Gelernte Hilflosigkeit. Der Einfluss von Geschlecht, Attributionsverhalten und Persönlichkeit. (2011) Diplomarbeit zu Erlangung des akademischen Grades Magistra der Naturwissenschaften an der Universität Wien Volltext)

Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, https://www.kersti.de/, Kersti_@gmx.de
Da ich es leider nie schaffe, alle Mails zu beantworten, schon mal im voraus vielen Dank für all die netten Mails, die ich von Lesern immer bekomme.