Beispielgeschichte, Kersti:
Dann einigten sich Klasse und Lehrer, ich sei schuld, daß
sie mich ärgerten und gaben mir die üblichen
Ratschläge
Einmal wollte ein Lehrer mir helfen. Groß kündigte er
an, daß er dafür eine Stunde opfern wolle
und empfand das als eine großartige Leistung.
Ich war gar nicht begeistert von dem Gedanken, daß eine
ganze Stunde lang in einer Angelegenheit herumgerührt
werden sollte, die mir SO wehtat. Ganz abgesehen davon, daß
ich bei der Herangehensweise die Erfolgschancen ziemlich genau
auf null schätzte. Aber - es war immerhin nicht
vollständig (hundertprozentig schon aber) auszuschließen,
daß vielleicht doch ein Wunder geschehen könnte, und
daß doch etwas geschieht, das
etwas bringt. Also ließ ich mich darauf ein.
Der Lehrer fragte die anderen, warum sie mich ärgerten.
Sie antworteten, daß ich blöd und seltsam sei und
daß das Ärgern eigentlich doch nur Spaß sei.
Ich fand diese Begründung unmöglich. Seit wann gibt
"Spaß" einem das Recht, andere zugrundezurichten?
Ganz abgesehen davon, daß ich nicht die geringste Vorstellung
hatte, was sie eigentlich mit "blöd", "komisch"
oder "seltsam" meinten. Also bat ich sie, mir an einem
Beispiel zu erklären, was sie meinten. (Tatsächlich sind
sie wohl schlicht nicht auf den Gedanken, daß sie mich mit
ihrem Geärgere vor ernsthafte Probleme stellten! Und dem
Lehrer scheint dieses Mißverständnis wohl auch
nicht aufgefallen zu sein.)
Zuerst erzählten sie eine Begebenheit vom Vortag:
Ich war wieder einmal dabei, auszuprobieren, ob es nicht
möglicherweise doch funktioniert, wenn man die Versuche,
einen zu Ärgern, einfach ignoriert. Das Ergebnis war
eigentlich wie immer - zuerst warfen sie mir Schimpfworte an den
Kopf, danach Kreidestückchen, als das keine Reaktion brachte,
größere Wurfgeschosse und schließlich zupften
sie an mir herum und als das nicht die ersehnte Reaktion erbrachte,
stießen sie mich herum und dann ... dauerte es nicht lange
- wegen der ständigen Ärgerreien hatte ich eh nicht
gerade die besten Nerven - bis ich in Tränen ausbrach.
Ich fragte mich kopfschüttelnd, was daran "komisch"
sein sollte, wenn ein Mensch aus Erschöpfung und Verzweiflung
- sie ließen mir doch den ganzen Vormittag keine fünf
Minuten Ruhe - in Tränen ausbricht. Aber sie kamen
offensichtlich gar nicht auf den Gedanken, daß sie mich mit
ihrem Verhalten an den Rand meiner Kräfte brachten.
Auf meine Bitte hin erzählten sie ein zweites Beispiel.
Diesmal hatte ich überhaupt keine Vorstellung, was ich
falsch gemacht hatte. Absolut nicht. Egal wieviel ich hin und
herüberlegte. Da ich mein Verhalten angemessen fand,
fragte ich, was ich falsch gemacht hätte.
"Aber das weißt du doch!" behauptete eine
Mitschülerin.
"Nein, das weiß ich nicht!" widersprach ich.
"Doch das weißt du!"
"Nein, das weiß ich nicht!"
So ging es hin und her. Auch der Lehrer erklärte mir,
daß ich das wüßte. Ich kam mir vor, wie im
falschen Film. Ich konnte mir durchaus vorstellen, daß
sie sich absolut nicht vorstellen konnten, daß ich nicht
wußte, was sie da an mir auszusetzen hatten. Umgekehrt
konnte ich schließlich auch einiges am Verhalten und
Denken meiner Mitschüler nicht nachvollziehen, weil ich
nach ganz anderen Grundsätzen handelte. Nur ist es ja
wirklich meine große Mühe, eine Frage zu beantworten,
sozusagen als Experiment. Es könnte ja etwas ändern.
Dann einigten sich Klasse und Lehrer, ich sei schuld, daß
sie mich ärgerten und gaben mir die üblichen
Ratschläge. Der Lehrer meinte, ich müsse dankbar sein.
Ich fragte mich wofür. Da ich Lehrer grundsätzlich
für unfähig hielt, soziale Probleme zu lösen, hätte
ich ihn bestimmt nicht um Hilfe gebeten. Und die Lehrer, die ich
kennenlernte, waren darin unfähig. Keiner ist über ein
"sich hilflos fühlen" angesichts meiner Situation
hinausgekommen.
Dieser spezielle Lehrer hat - sicherlich gut gemeint - etwas getan,
was schlimmer ist als gar nichts. Er hat mir auch noch die Alleinschuld
dafür zugewiesen, daß ich eine Situation nicht ändern
konnte - in der ich nicht einmal, wenn ich die Leute schüttelte,
erfahren konnte, was ich denn eigentlich so schrecklich falsch machte,
um in ihren Augen diese Strafe zu verdienen.